NATO setzt auf Strategiewechsel
Oberkommandierender Craddock: Pakt hat in Afghanistan "Zeit verloren"
Der NATO-Oberkommandierende John Craddock hat die Notwendigkeit eines Strategiewechsels der Allianz in Afghanistan eingeräumt.
Washington/Kabul (AFP/ND). Die NATO habe in Afghanistan »Zeit verloren«, sagte Craddock der
Tagezeitung »Die Welt«. In der Vergangenheit habe sich die NATO auf die Aufständischen
konzentriert und nicht auf die Sicherheit. Eine Trendwende erhoffe er sich von der anstehenden
Aufstockung der ISAF-Truppen um 17 000 US-Soldaten sowie durch ein größeres ziviles
Engagement.
Craddock plädierte erneut dafür, dass ISAF-Soldaten gegen die Drogenmafia im Land vorgehen. In
80 Prozent der bisherigen Zugriffe seien Waffen und Materialien gefunden worden, die eine
Verbindung zu Terroristen aufwiesen. In Deutschland hatte die Forderung des US-Generals nach
einem kompromisslosen Vorgehen gegen die Drogenmafia zuletzt scharfe Kritik ausgelöst.
Unterdessen haben die afghanischen Extremisten offenbar bereits einen Strategiewechsel
vollzogen: Der Anführer der Taliban, Mullah Omar, nimmt die Kontrolle über die radikalislamischen
Rebellen nach Informationen des »Wall Street Journal« zunehmend selbst in die Hand. Mullah Omar
ordne nunmehr selbst Anschläge an und entscheide über die Kommandeursstruktur der Taliban am
Hindukusch, berichtete die US-Zeitung. Dies sei ein klarer Strategiewechsel, hieß es.
Bislang war die Organisation des Taliban-Aufstandes gegen die USA-geführten Streitkräfte in
Afghanistan den örtlichen Anführern überlassen, wie die Zeitung unter Berufung auf USRegierungsvertreter
und Aufständische weiter berichtete. Omar, der einem als »Schura von Quetta«
bekannten Taliban-Führungsgremium vorstehe, habe sich bislang auf das Sammeln von
Spendengeldern, religiöse Führung und strategische Ratschläge für die Kämpfer beschränkt.
Seit Jahresbeginn aber ordnete Omar demnach selbst eine ganze Serie von Anschlägen im Süden
und Osten Afghanistans an. Es sei abzusehen, dass Afghanistan eine äußerst blutige Zeit
bevorstehe. Als Beispiele für Mullah Omars Eingreifen führt das »Wall Street Journal« den Anschlag
auf den jüngsten Bruder des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai, Ahmed Wali Karsai, Mitte Mai
an. Dieser war dem Attentat auf seinen Konvoi nur knapp entkommen.
Die neue Strategie sei die Antwort der »Schura von Quetta« auf die geplante Aufstockung der US-Truppen.
* Aus: Neues Deutschland, 23. Juni 2009
Strategiewechsel
Von Olaf Standke **
Es ist wohl die Zeit der Eingeständnisse in Sachen Afghanistan. Erst hat jetzt nach langem Zögern das US-amerikanische Militär eingeräumt, dass durch Fehler bei einem Luftangriff in Afghanistan »wahrscheinlich« 26 Zivilisten getötet wurden. Eine Untersuchung habe ergeben, dass bei dem Einsatz eines Kampfbombers Anfang Mai nicht alle Vorgaben befolgt wurden. Und der NATO-Oberkommandierende am Hindukusch, John Craddock, ging sogar noch weiter und übte generelle Selbstkritik: In der Vergangenheit habe sich die Allianz zu sehr auf die Aufständischen konzentriert und nicht auf die Sicherheit und so Zeit verloren. Ein Strategiewechsel sei notwendig.
Die vom General begrüßte Aufstockung der ISAF-Truppen um 17 000 US-Soldaten ist das aber ebenso wenig wie der von ihm geforderte Einsatz der NATO-Verbände gegen die Drogenmafia im Lande. So wichtig deren Zerschlagung ist, mehr Sicherheit und Stabilität in Afghanistan entstünden nur, wenn unzähligen Bauern im Lande eine Alternative zum Opiumanbau geboten werden könnte. So wie der billigend in Kauf genommene Tod von Zivilisten bei Kampfeinsätzen in Afghanistan immer wieder wütende Proteste auslöst, so dürften auch isolierte militärische Operationen ausländischer Soldaten gegen die Existenzgrundlage vieler einheimischer Familien kaum für Rückhalt in der Bevölkerung sorgen. Gerade hat der Kongress in Washington rund 80 Milliarden Dollar zusätzlich für die Finanzierung der Kriege in Irak und in Afghanistan gebilligt. Am Hindukusch wären auch sie verschossen, wenn es nicht bald einen nachhaltigen politischen Strategiewechsel gibt.
** Aus: Neues Deutschland, 23. Juni 2009 (Kommentar)
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