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Die Rechnung ohne den Wirt

Im Herbst entscheidet der Bundestag über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes

Von Peter Strutynski *

Mitte Juni diskutierte der Deutsche Bundestag zum wiederholten Mal über die gegenwärtige Afghanistan-Politik (ein euphemistisches Wort, wo es sich doch um Krieg und nicht mehr um Politik handelt) der Bundesregierung. Schnell waren die grundsätzlichen Standpunkte ausgetauscht: Hier das Regierungslager, die sich verzweifelt mühte, die Erfolge des Militäreinsatzes in Afghanistan zu feiern: Laut Außenminister Steinmeier sind in 32 000 Dörfern Entwicklungsprojekte „erfolgreich umgesetzt“ worden; 80 Prozent der Bevölkerung haben heute Zugang zu basismedizinischer Versorgung; sechs Millionen Kinder gehen zur Schule, 30.000 Lehrer sind ausgebildet und 3.500 Schulen wiederaufgebaut worden; und schließlich wurden acht Millionen Minen geräumt, 13.000 Kilometer Straßen gebaut bzw. repariert und – der Gipfel des Fortschritts -: „Die Menschen gründen inzwischen wieder Unternehmen.“

Die Opposition nahm die Botschaft von den „blühenden Landschaften“ am Hindukusch unterschiedlich auf. Die FDP mochte die Erzählung im Großen und Ganzen glauben, war aber der Meinung, dass man das den Menschen „draußen im Land“ besser kommunizieren müsse. Die Grünen bemängelten das geringe Tempo der Fortschritte und den zu geringen Mitteleinsatz und plädierten für eine exaktere Beschreibung des „Zivilmandats“. Lediglich die LINKE stellte den Fortschrittsbericht der Regierung als „schönfärberisch“ insgesamt in Frage und erinnerte an die theoretische und praktische Unmöglichkeit, mittels „humanitärer Interventionen“ Menschenrechte, Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt exportieren zu können. Lafontaine rief dem Interventionslager zu: „Wann endlich begreifen Sie, dass die sogenannten humanitären Interventionen nicht nur als Begriff eine Unmöglichkeit darstellen, sondern mittlerweile auch im Ergebnis?“

In der Tat: Der Schönfärberei der Regierung können Fakten und Daten gegenüber gestellt werden, die das von Bürgerkrieg und Krieg geschundene Land in einem düsteren Licht erscheinen lassen. Norman Paech berichtete z.B. auf dem letzten Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel davon, dass die Selbstmordrate von Frauen in Afghanistan noch nie so hoch gewesen sei wie heute; dass 95 Prozent der Frauen an Depressionen leiden, dass die Lebenserwartung von Frauen nur 44 Jahre betrage und nach wie vor 80 Prozent der Heiraten erzwungen, also Zwangsheiraten seien. Außerdem besuche nur eines von fünf Mädchen, also 20 Prozent, eine Grundschule. Laut Unicef schließlich hätten 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen keinen Schulzugang.

Unterschiedlicher kann die Wahrnehmung der Realität kaum sein. Doch es geht in Afghanistan nicht nur um einen Streit darüber, ob der eine mehr das Positive sieht, der andere mehr die Defizite herausstreicht (nach dem Muster des „halb vollen“ oder „halb leeren Glases“). Es geht vielmehr um die grundsätzliche Einschätzung, dass mit militärischen Interventionen weder ein Export von Menschenrechten und Demokratie noch ein tragfähiger ziviler Aufbau möglich ist. Vergegenwärtigt man sich den Auslöser für die Bundestagsdebatte, so wird die Szenerie noch bizarrer. Kurz zuvor haben Verteidigungsminister Jung und der Generalinspekteur der Bundeswehr Schneiderhahn verkündet, die Truppenstärke in Afghanistan von gegenwärtig 3.500 auf 4.500 erhöhen und gleichzeitigt die Dauer des Mandats (bisher jeweils für ein Jahr) auf 14 Monate verlängern zu wollen. Die Begründung dafür kommt einem unfreiwilligen Offenbarungseid gleicht: Der Bundestagswahlkampf solle vom Afghanistan-Thema nicht „belastet“ werden. Deutlicher könnte das Eingeständnis nicht ausfallen, dass die überwiegende Mehrheit der Wähler den Afghanistaneinsatz ablehnt.

Die Ausweitung des Militäreinsatzes in Afghanistan widerspricht aber auch den eigenen Bekundungen der Regierungskoalition. In ihrem "neuen" Afghanistankonzept vom September 2007 versprach die Regierung mehr für den zivilen Wiederaufbau des Landes tun zu wollen (Stärkung der Regierungsinstitutionen und von lokalen Strukturen, Aufbau des Justizsystems, Rückkehrprogramm für Flüchtlinge, Wirtschaftsförderung usw.). Stattdessen wird nun ausschließlich die militärische Komponente erhöht. Allein die Aufstockung der Truppe um 1.000 Soldaten wird mehr Geld kosten als die gesamte zivile Afghanistanhilfe (2008: 125 Mio. EUR). Hinzu kommen die Begehrlichkeiten der Bundeswehr. Bernhard Gertz fordert zeitgleich mit Jungs Ankündigung eine bessere Ausrüstung für die Truppe in Afghanistan, z.B. sollen statt bisher sechs künftig 12 geschützte Hubschrauber CH 53 eingesetzt werden.

Es gibt so viele Gründe, nicht nur vor einer Ausweitung des militärischen Engagements in Afghanistan zu warnen, sondern eine Beendigung des Einsatzes zu fordern (siehe hierzu den Beitrag von Christine Buchholz und mir: Abzug oder Exit?). Die meisten Experten kommen zu dem Schluss, dass Afghanistan militärisch nicht zu besiegen sei. Ein Blick auf die bisherige Entwicklung der Kämpfe in Afghanistan zeigt: Mit jeder Truppenaufstockung von Seiten der NATO nahm auch der Widerstand gegen die Besatzung zu. Sicherheit und Stabilität sind mit Militär nicht zu erreichen. Henry Kissinger prophezeite Anfang der 80er Jahre den Sowjets nach ihrem Einmarsch in Afghanistan, dort ihr "Vietnam" zu erleben. Die NATO und die Bundeswehr sind heute dabei, ihr eigenes "Vietnam" zu schaffen.

Die Unbelehrbarkeit der Bundesregierung und des gesamten bürgerlichen Lagers nimmt beängstigende Züge an. Mittlerweile, so scheint es, geht es ihnen längst nicht mehr nur um Bündnistreue gegenüber den USA und der NATO oder um den Irrglauben an einen Erfolg im „Krieg gegen der Terror“. Immer mehr schält sich heraus, dass die herrschende Klasse mit der Militärintervention ein Exempel setzen möchte: Die demokratischen Staaten, so die zu lernende Lektion, haben das Recht, unabhängig vom Völkerrecht, der UN-Charta und den Beschlüssen des UN-Sicherheitsrats jedes beliebige Land der Welt militärisch zu bedrohen oder anzugreifen. Diesmal ist es Afghanistan, morgen der Iran und übermorgen vielleicht Sudan. Die vorgeschobenen Gründe mögen schillern („humanitäre Katastrophe verhindern“, „Völkermord vorbeugen“, „Menschenrechte durchsetzen“ usw.) – ein übergeordneter Grund ist auf jeden Fall der Rückbau der 1945 mit der UN-Charta kodifizierten modernen internationalen Rechtsordnung. Am Ende soll stehen, dass Militär und Krieg wieder zum selbstverständlichen Mittel deutscher Außenpolitik werden.

Doch die Herrschenden haben wie so oft in der Geschichte die Rechnung ohne den Wirt gemacht: sei’s in Afghanistan, das sich nicht besiegen, sei’s im eigenen Land, das sich vom Krieg nicht überzeugen lässt.

Zur Person: Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler an der Uni Kassel, AG Friedensforschung; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


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