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NATO gibt sich gelassen

Nach Afghanistan-Angriffen kein Strategiewechsel *

Nach der Angriffsserie der Taliban in Afghanistan will die NATO nichts an ihren Truppenabzugsplänen ändern.

»Wir stehen offensichtlich noch Herausforderungen bei der Sicherheit gegenüber«, sagte NATOSprecherin Oana Lungescu am Montag in Brüssel. »Das war nicht die erste solcher Attacken, und ich erwarte nicht, dass es die letzte war.« Die am Wochenende geführte Serie von Angriffen der Taliban unter anderem gegen westliche Botschaften in der afghanischen Hauptstadt Kabul markierten den Beginn der Frühjahrsoffensive der Taliban.

»Aber solche Angriffe ändern die Übergabe-Strategie nicht«, sagte die NATO-Sprecherin. An dem Zeitplan, der eine Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die afghanischen Kräfte bis Ende 2014 vorsieht, werde festgehalten. Die Angriffe hätten zwar »Schlagzeilen gemacht«, jedoch nicht außerordentlich viele Opfer gefordert, so Lungescu. Die Sprecherin führte dies auch auf die Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte zurück, die »weitgehend allein« die Talibanangriffe zurückgeschlagen hätten. Bei Anschlägen und Gefechten in Kabul und anderen Orten wurden dem afghanischen Innenministerium zufolge mehr als 50 Menschen getötet, darunter 36 Taliban.

Nach der 18-stündigen Angriffsserie erhob der afghanische Präsident Hamid Karsai unterdessen Vorwürfe auch gegen die NATO. In einer Mitteilung Karsais hieß es am Montag, Geheimdienstversagen der afghanischen Seite »und besonders der NATO« hätte die Angriffe möglich gemacht. Das müsse untersucht werden. Karsai lobte die afghanischen Sicherheitskräfte. Sie hätten dem Volk das »Vertrauen gegeben, dass sie ihr Territorium erfolgreich verteidigen können«.

Das Innenministerium machte das aus Pakistan heraus operierende Hakkani-Netzwerk für die Attacken verantwortlich. Innenminister Bismillah Mohammadi sagte in Kabul, ein festgenommener Angreifer habe der Polizei gestanden, er sei aus Pakistan. »Er wurde dort trainiert und ausgerüstet «, erklärte der Minister weiter. Er habe außerdem gestanden, dem Hakkani-Netzwerk anzugehören. Das Netzwerk ist eine eigene Gruppe, erkennt aber Taliban- Chef Mullah Mohammad Omar als obersten Anführer an.

Ein Sprecher der NATO-geführten Internationalen Schutztruppe (ISAF) sagte, die ausländischen Truppen hätten die afghanischen Sicherheitskräfte in Kabul in der Nacht zu Montag aus der Luft unterstützt. Augenzeugen berichteten über den Einsatz von Kampfhubschraubern.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. April 2012

Australien zieht Truppen "vorzeitig" ab

Am 17. April kündigte die australische Regierungschefin Julia Gillard einen vorzeitigen Abzug der australischen Truppen schon für das kommende Jahr an. Den Abzug der 1.550 Soldaten ihres Landes schon im kommenden Jahr hatte sie als "Meilenstein" bezeichnet.

Ob diese Ankündigung eine Kettenreaktion bei anderen Interventionsstaaten auslösen wird, ist nicht vorherzusagen. Immerhin zog einen Tag nach der australischen Ankündigung Neuseeland nach. Wie n-tv am 18. April meldet, sollen die 140 Soldaten in einem Wiederaufbauteam in der Provinz Bamian womöglich vor 2014 zurückkehren. Die Regierung wollte sich aber auf Spekulationen über den genauen Abzugstermin nicht einlassen. Außenminister Murray McCully, der zur Tagung der Außen- und Verteidigungsminister der Nato in Brüssel ist, bestätigte lediglich, dass die Provinz Bamian wahrscheinlich zu den ersten gehören wird, in der afghanische Sicherheitskräfte die volle Verantwortung übernehmen. "Wir bekommen Signale, dass das schneller passiert als erwartet", sagte er.



Tarana kann nicht abziehen

Von René Heilig **

Zu seinem Antrittsbesuch war Bundespräsident Joachim Gauck am Montag in Brüssel. Bei einem Treffen mit NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen lobte Gauck – laut »Tagesschau « – die Einsätze des Bündnisses für Freiheit und Demokratie.

Über den Einsatz in Afghanistan beraten ab heute auch die Außen- und Verteidigungsminister. Die 28 NATO-Bündnisstaaten werden von den Ereignissen in Afghanistan getrieben. Vier Wochen vor dem NATO-Gipfel in Chicago sollte daher Einigkeit demonstriert werden. Vor allem beim Abzugszeitplan für die derzeit 130 000 ausländischen Soldaten. Um den Abzug des Materials zu meistern, hofft man in Brüssel auf einen raschen Vertrag mit Russland. In Uljanowsk soll ein großer Umschlagplatz entstehen.

Einen Tag vor der Sitzung in Brüssel kündigte Australien unerwartet an, seine 1550 Soldaten ein Jahr früher aus Afghanistan abziehen zu wollen, als bislang geplant. Der Einsatz in Afghanistan, bei dem 32 australische Soldaten getötet wurden, ist in Australien zunehmend unbeliebt. Während sich Australien als sogenannte Unterstützernation relativ rasch aus dem Krieg zurückziehen kann, bleibt Deutschland als Führungsnation in ihm gefangen.

Die NATO hat auch die Größe und Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte vorgegeben. Afghanistans Armee und Polizei sollen bis Ende 2014 über rund 352 000 Mann verfügen. Diese Stärke solle bis 2017 wieder auf 230 000 sinken. Offenbar rechnet man die »natürliche« Desertion ein. Jährlich muss der Westen 4,1 Milliarden US-Dollar für die afghanischen Sicherheitskräfte aufbringen.

Obwohl die Zeit für die Taliban und andere Aufständische arbeitet, wird der Widerstand gegen die Okkupanten nicht geringer. Im gleichen Maße wächst das Bemühen um Kriegsverklärung. Nachdem am Sonntag abermals Angreifer nach Kabul eingesickert waren, zählte man nach 18-stündigen Gefechten mehr als 50 Tote. Der ISAF-Chef John Allen war stolz auf die schnelle Reaktion der afghanischen Sicherheitskräfte. Seine US-Botschaft twitterte: »Es gibt große Herausforderungen, aber wir sind entschlossen, unsere wichtige Arbeit mit unseren afghanischen und internationalen Partnern weiter zu leisten, um den Menschen in Afghanistan die Chance zu geben, die sie brauchen, um ihr Land zu aufzubauen – für sich und ihre Kinder.«

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 18. April 2012


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