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Blinde Berglöwen in Afghanistan

Falsche US-Politik lässt Taliban wieder erstarken

Von Thomas Ruttig, Kabul *

Die Bilanz des Anti-Terror-Kampfes in Afghanistan ist desaströs. Einstige Unterstützer von Osama Bin Laden sitzen auch heutzutage im Kabuler Parlament. Und die Taliban sind am Hindukusch wieder auf dem Vormarsch.

Der Mann, der Osama Bin Laden in den Bergen von Tora Bora entkommen ließ, sitzt heute als respektabler Abgeordneter im Parlament von Kabul. Denn Hazrat Ali, US-Verbündeter der ersten Nach-Taliban-Stunde, ist nichts nachzuweisen. So betrachten ihn eben jene US-Generäle als Verbündeten, die nach wie vor im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet den Weltterroristen Nr. 1 jagen, während sie öffentlich so tun, als ob dessen Person längst zweitrangig geworden sei. Prof. Burhanuddin Rabbani, der 1996 als Staatschef Afghanistans die Flugzeuge der staatlichen Luftlinie schickte, um Bin Laden abzuholen, sitzt im Parlament in der ersten Reihe, hofiert von ausländischen Diplomaten wie von Präsident Hamid Karzai, der sich von ihm regelmäßig Rat holt.

So ambivalent wie die führende Personnage in dem Land am Hindukusch, von dem aus Al Qaida die Fäden für die Anschläge des 11. September 2001 gezogen haben soll, sind auch die Ergebnisse des Bush’schen Krieges gegen den Terrorismus dort. Den verantwortlichen US-Generälen und -Politikern fällt es nach wie vor schwer, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.

Lange Zeit galt die militärische Intervention, die am 8. Oktober 2001 mit landesweiten Bombardements von Taliban-Einrichtungen begann, ausschließlich dem führenden Al-Qaida-Personal. Den Amerikanern gelang zwar damals auch der Sturz des Taliban-Regimes, doch dessen Spitzen, die in die Berge entkommen waren, haben sich in der Zwischenzeit reorganisiert. Immerhin beginnen die USA nun endlich, die Taliban als politischen Gegner ernstzunehmen. Bisher aber haben sie letztere – im Gegensatz zu kurdischen und anderen Kleinstgruppen – nicht zur terroristischen Organisation erklärt. Dies mag anfangs sogar zutreffend gewesen sein, denn nach den vorliegenden Informationen waren die Taliban tatsächlich nicht in den Großen Terrorplot eingeweiht. Einige von ihnen ahnten höchstens, dass »etwas Großes« bevorstehe. Das hat sich inzwischen gewandelt. Von der relativ breiten, auf zahlreiche Paschtunen-Stämme gestützten Taliban-Bewegung blieb nur der Hardliner-Kern um Mullah Muhammed Omar und Militärchef Mullah Dadullah übrig. Mit Hilfe islamistisch gesonnener, in den »Ruhestand« getretener wie wohl auch aktiver pakistanischer Militärs und Geheimdienstler reorganisierte man sich in Rückzugsbasen in diesem Land. Von Peschawar und Quetta aus organisieren zwei Taliban-Räte den Kampf gegen die »ungläubigen Besatzer« in Afghanistan, kanalisieren die weiter fließenden Geldströme vom Golf, aus islamistischen Kreisen ihres Gastgeberlandes sowie aus dem explodierenden Drogenhandel.

Die ausufernde Korruption auf allen Ebenen der afghanischen Regierung, die nicht in der Lage war, mit den Hilfsmilliarden die immer noch beleidigende Lebenslage wenigstens eines gewichtigen Teils der Bevölkerung zu verbessern, treibt den Taliban – die durchaus nicht populär sind – neue Rekruten zu. Inzwischen beherrschen sie im Zentrum, Süden und Südosten mehrere Distrikte völlig oder teilweise. Von dort aus fahren sie Angriffe auch in den bisher relativ ruhigen Norden. Im Süden übernahmen inzwischen NATO-Truppen – Kanadier, Briten und Niederländer – mit neuer Taktik den Kampf gegen die Aufständischen. Mit – in Malaysia und Vietnam – »bewährten« Counterinsurgency-Maßnahmen sollen wenigstens einige der Rücksichtslosigkeiten ihrer US-Vorgänger vermieden und schrittweise auszudehnende »Inseln der Stabilität« geschaffen werden, in denen die Afghanen endlich konkreten Wiederaufbau erleben sollen.

Währenddessen starteten die US-Truppen im Südosten eine neue massive Anti-Taliban-Operation namens »Mountain Lion« (Berglöwe). »Ein falscher Name«, höhnt der demokratische Aktivist Saber Naseri. »Wenn der Berglöwe brüllt, zieht sich der Schakal in die Berge zurück. Den kann man nur mit List fangen.« Mit anderen Worten, eigentlich eine Binsenweisheit: Konflikte wie den in Afghanistan kann man nicht ausschließlich militärisch lösen.

* Aus: Neues Deutschland, 11. September 2006


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