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"Der NATO-geführte ISAF-Einsatz in Afghanistan dient der Sicherheit des euro-atlantischen Raums"

Bundesverfassungsgericht weist Klage gegen Tornado-Einsatz zurück. Friedensbewegung und Soldatenvereinigung: Ein politisches Urteil - "Tore für militärische Einsätze der Bundeswehr weit geöffnet"

Im Folgenden dokumentieren wir:

  1. die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts zum Urteil über den Tornado-Einsatz vom 3. Juli 2007,
  2. eine Presseerklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag zum Urteil, und
  3. eine Pressemitteilung des "Darmstädter Signals".



Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 72/2007 vom 3. Juli 2007
Zum Urteil vom 3. Juli 2007 – 2 BvE 2/07 –

Klage der Linksfraktion gegen Tornado-Einsatz in Afghanistan zurückgewiesen

Die gegen die Bundesregierung gerichtete Organklage der Bundestagsfraktion PDS/Die Linke, die die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) in Afghanistan betrifft, war erfolglos. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Urteil vom 3. Juli 2007 festgestellt, dass die Bundesregierung mit dem Beschluss zur Entsendung von Tornado-Aufklärungsflugzeugen nach Afghanistan keine Rechte des Deutschen Bundestags aus Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 GG verletzt hat. Der NATO- geführte ISAF-Einsatz in Afghanistan diene der Sicherheit des euro- atlantischen Raums und überschreite daher nicht wesentliche Strukturentscheidungen des NATO-Vertrags. Zudem lägen keine Anhaltspunkte für eine strukturelle Abkopplung der NATO von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung vor.
(Hintergrund des Verfahrens siehe Pressemitteilungen Nr. 36 und 37/2007 vom 30. März 2007)

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Die Anträge sind zulässig, insbesondere ist die Antragstellerin antragsbefugt. Sie hat hinreichend dargelegt, dass der Deutsche Bundestag durch die angegriffenen Maßnahmen in Rechten verletzt sein könnte, die ihm durch das Grundgesetz übertragen worden sind.

Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln, bedürfen nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Zustimmung der Gesetzgebungskörperschaften in Form eines Bundesgesetzes. Mit der Zustimmung zu einem Vertragsgesetz bestimmen Bundestag und Bundesrat den Umfang der auf dem völkerrechtlichen Vertrag beruhenden Bindungen der Bundesrepublik und tragen dafür fortdauernd die politische Verantwortung gegenüber dem Bürger. Wesentliche Abweichungen von der Vertragsgrundlage sind deshalb von dem ursprünglichen Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt. Betreibt die Bundesregierung die Fortentwicklung eines Vertrags jenseits der ihr erteilten Ermächtigung, wird der Bundestag in seinem Recht auf Teilhabe an der auswärtigen Gewalt verletzt.

Der Fortentwicklung eines völkerrechtlichen Vertrags, der die Grundlage eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG bildet, ist eine weitere Grenze gesetzt. Nach Art. 24 Abs. 2 GG kann sich der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“. Verfassungsrechtlich sind die Einordnung der Bundesrepublik in ein solches System und die fortdauernde Teilnahme daran damit unter den Vorbehalt der Friedenswahrung gestellt. Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient, ist verfassungsrechtlich untersagt und kann deshalb nicht vom Inhalt des Zustimmungsgesetzes gedeckt sein.

II. Die Anträge sind unbegründet. Der Deutsche Bundestag ist nicht in seinem Recht aus Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 GG verletzt.
  1. Der NATO-geführte ISAF-Einsatz in Afghanistan dient der Sicherheit des euro-atlantischen Raums. Er bewegt sich damit innerhalb des Integrationsprogramms des NATO-Vertrags, wie es der Deutsche Bundestag im Wege des Zustimmungsgesetzes zu diesem Vertrag mitverantwortet.

    a) Der regionale Bezug als Kernelement des Integrationsprogramms des NATO-Vertrags bedeutete von Beginn an nicht, dass militärische Einsätze der NATO auf das Gebiet der Vertragsstaaten beschränkt sein müssten. Mit dem Zweck der NATO als System mehrerer Staaten zur gemeinsamen Abwehr militärischer Angriffe von außen waren abwehrende militärische Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets, nämlich auch auf dem Territorium eines angreifenden Staates, von vornherein impliziert. Insofern entspricht neben der militärischen Verteidigung gegen einen Angriff auch ein damit sachlich und zeitlich in Verbindung stehender komplementärer Krisenreaktionseinsatz auf dem Gebiet des angreifenden Staates noch der regionalen Begrenzung des NATO-Vertrags.

    b) Eine Lösung der NATO von ihrem regionalen Bezugsrahmen kann in dem ISAF-Einsatz in Afghanistan nicht gesehen werden. Denn dieser Einsatz ist ersichtlich darauf ausgerichtet, nicht allein der Sicherheit Afghanistans, sondern auch und gerade der Sicherheit des euro-atlantischen Raums auch vor künftigen Angriffen zu dienen. Der ISAF-Einsatz hat von Beginn an das Ziel gehabt, den zivilen Wiederaufbau Afghanistans zu ermöglichen und zu sichern, um dadurch ein Wiedererstarken von Taliban, Al-Qaida und anderen friedensgefährdenden Gruppierungen zu verhindern. Die Sicherheitsinteressen des euro-atlantischen Bündnisses sollten dadurch gewahrt werden, dass von einem stabilen afghanischen Staatswesen in Zukunft keine aggressive und friedensstörende Politik zu erwarten ist, sei es durch eigenes aktives Handeln dieses Staates, sei es durch duldendes Unterlassen im Hinblick auf terroristische Bestrebungen auf dem Staatsgebiet. Die Verantwortlichen im NATO-Rahmen durften und dürfen davon ausgehen, dass die Sicherung des zivilen Aufbaus Afghanistans auch einen unmittelbaren Beitrag zur eigenen Sicherheit im euro- atlantischen Raum leistet.
  2. Der ISAF-Einsatz in Afghanistan liefert danach, wie er sich tatsächlich vollzieht und in den diesbezüglichen Passagen der Gipfelerklärungen von Riga politisch fixiert wird, auch keine Anhaltspunkte für eine strukturelle Abkopplung der NATO von ihrer friedenswahrenden Zweckbestimmung (Art. 24 Abs. 2 GG). Der Charakter des NATO-Vertrags ist durch den ISAF-Einsatz in Afghanistan und das dortige Zusammenwirken mit der Operation Enduring Freedom ersichtlich nicht verändert worden. ISAF und die Operation Enduring Freedom haben getrennte Zwecksetzungen, unterschiedliche Rechtsgrundlagen und klar abgegrenzte Verantwortungssphären. Während die Operation Enduring Freedom vornehmlich der unmittelbaren Terrorismusbekämpfung gilt, dient ISAF der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Afghanistan, um eine Grundlage für den zivilen staatlichen Aufbau zu schaffen. Durch Kooperationen zwischen den Einsätzen, die die Sicherheit in Afghanistan erhöhen sollen, sind diese rechtlichen und tatsächlichen Trennungen nicht aufgehoben worden. Dass von integrierten Kampfeinsätzen nicht gesprochen werden kann, ergibt sich bereits aus dem Beschluss der Bundesregierung zur Entsendung der Tornado-Aufklärungsflugzeuge. Danach sollen die Tornado- Flugzeuge Aufklärungsarbeit leisten, die Fähigkeit zur Luftnahunterstützung ist nicht vorgesehen, und die Flugzeuge sind nur zu Eigen- und Selbstschutzzwecken bewaffnet. Was die Weitergabe von Aufklärungsergebnissen an die Operation Enduring Freedom betrifft, so ist diese nach dem genannten Beschluss auf der Basis des ISAF-Operationsplans der NATO nur dann vorgesehen, „wenn dies zur erforderlichen Durchführung der ISAF-Operation oder für die Sicherheit von ISAF-Kräften erforderlich ist“.
Quelle: Website des BVerfG; www.bundesverfassungsgericht.de

Hier geht es zum Urteil im vollen Wortlaut: www.bundesverfassungsgericht.de


Friedensbewegung: Urteil war zu erwarten

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag
  • Friedensbewegung nicht überrascht
  • Urteil des BVerfG liegt in der Tradition des Urteils von 1994
  • Geografiekenntnisse der Verfassungsrichter mangelhaft
  • ISAF ist das falsche Objekt
  • Ein politisches Urteil - Friedensbewegung antwortet politisch
Kassel, 3. Juli 2007 - Zum heute verkündeten Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Organklage Der Fraktion DIE LINKE erklärte der Sprecher des Bundesausschusses Peter Strutynski:

Das Bundesverfassungsgericht ist sich einmal mehr treu geblieben. Bereits 1994 hatte es in einem denkwürdigen Urteil Auslandseinsätze jeglicher Art (Frieden erhaltende und Frieden erzwingende, also Kampfeinsätze) als mit dem Grundgesetz vereinbar gehalten. Vorausgegangen waren Klagen der SPD und der FDP wegen der AWACS-Einsätze in der Adria und wegen des Bundeswehreinsatzes in Somalia. Das BVerfG stellte damals fest, dass Bundeswehrauslandseinsätze dann verfassungskonform seien und nicht dem Art. 26 GG widersprächen, wenn erstens Deutschland im Rahmen eines Systems "kollektiver Sicherheit" (worunter das BVerfG fälschlicherweise auch die NATO zählt) handelt und wenn der Bundestag mit einfacher Mehrheit darüber entschieden hat.

Die Klage der LINKEN zielte diesmal vor allem darauf ab, gerichtlich zu überprüfen, ob der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan unter Führung der NATO nicht eine Überschreitung der Verpflichtungen aus dem NATO-Vertrag darstelle. Im NATO-Vertrag, der seiner Zeit von der Bundesrepublik als völkerrechtlich bindender Vertrag ratifiziert wurde, ist der Radius des Militärbündnisses und seiner Staaten genau festgelegt, nämlich auf "das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf das Gebiet der Türkei oder auf die der Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses" (Art. 6). Afghanistan liegt erkennbar außerhalb dieser Grenzen, also "out of area". Zum anderen definiert sich die NATO nach der Präambel und nach Art. 5 des Nordatlantikvertrags eindeutig als Verteidigungsbündnis. Bis auf die abstruse Konstruktion des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers, wonach Deutschland auch am Hindukusch verteidigt würde, kommt kein vernünftig denkender Mensch auf die Idee, der Krieg im Afghanistan habe mit der Verteidigung Deutschlands oder der NATO zu tun.

Offenbar ließ sich auch das oberste deutsche Gericht nicht von Vernunftgründen leiten, als es heute feststellte, der von der NATO geführte Einsatz der ISAF-Truppen diene der Sicherheit des euro-atlantischen Raums und überschreite deshalb nicht den NATO-Vertrag. Geografie scheint nicht die Stärke der Juristen zu sein. Leider haben die Verfassungshüter bei ihrem Urteil aber auch das Recht außer Acht gelassen. Es ist noch einmal daran zu erinnern, dass nach dem Grundgesetz die Bundeswehr allein zum Zwecke der Verteidigung gegründet wurde. In Art. 87a heißt es: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." Und Art. 26 verbietet Angriffskriege: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen."

Selbst wenn man der Argumentation des BVerfG folgen wollte, macht das Urteil keinen Sinn. Der Tornado-Einsatz ist Bestandteil von ISAF. ISAF ist aber ein Einsatz zur Stärkung der Regierung in Kabul und zur Unterstützung des Wiederaufbaus des weitgehend zerstörten Landes. Von "Sicherheit des euro-atlantischen Raums" kann bei diesem Mandat keine Rede sein. Hierzu wäre allenfalls über den Umweg des Krieges gegen den Terror die von den USA geführte "Operation Enduring Freedom" geeignet (wenn man der irrigen Auffassung wäre, der sog. "Krieg gegen den Terror" würde die Grenzen der NATO sicherer machen). Das Urteil müsste sich also eher auf OEF beziehen, keinesfalls aber auf ISAF.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag ist von dem Urteil des BVerfG nicht überrascht. Rechtsfragen werden nicht selten auch als politische Fragen behandelt. Und der Konsens unter den etablierten Parteien, die Bundeswehr und die NATO zu weltweit einsetzbaren Interventionsstreitkräften bzw. -Bündnissen auszubauen, wird auch von den obersten Verfassungshütern geteilt. Umso mehr stellt sich für die Friedensbewegung die Aufgabe, den Afghanistaneinsatz (ISAF, Tornado und Enduring Freedom, alles drei unter dem Kommando der NATO) politisch zu bekämpfen. Die Bevölkerung ist für die Beendigung des Einsatzes - und ist damit den Abgeordneten der etablierten Parteien um Längen voraus.

Die Friedensbewegung wird ihre Kampagne "Bundeswehr raus aus Afghanistan" verstärken und mit der Rückendeckung der Bevölkerungsmehrheit im Herbst nach Berlin (Demonstration am 15. September) und in den Bundestag tragen.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)



Karlsruhe/Swisttal, den 3.7.07
P R E S S E M I T T E I L U N G

Bundeswehrsoldaten kritisieren: Das Bundesverfassungsgericht öffnet weltweit die Tore für militärische Einsätze der Bundeswehr

Heftige Kritik äußern die im Arbeitskreis DARMSTÄDTER SIGNAL (Ak DS) zusammengeschlossenen aktiven und ehemaligen Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr am heutigen "Tornadourteil".

Das BVerfG hat die räumliche Begrenzung der Bundeswehreinsätze im Rahmen des NATO-Verteidigungsbündnisses völlig aufgehoben. OTL a. D. Helmuth Prieß: "Der Hindukusch ist überall - wo Struck und Jung es für richtig halten!"

Während Kanzler Kohl und Außenminister Kinkel noch 1990 erklärten, die Bundeswehr könne aus rechtlichen Gründen an der militärischen Befreiung Kuweits (auf Grundlage von UN-Beschlüssen!) nicht teilnehmen, verließ das BVerfG 1994 mit seiner neuen GG-Interpretation dieses Fundament und schafft durch das heutige Urteil den Freiraum für weltweite Bundeswehr-Militäreinsätze. Eine veränderte Politik und eine sich verändernde Rechtsprechung gehen Hand in Hand!

Die Feststellung des BVerfG, ISAF und Operation Enduring Freedom (OEF) hätten klar abgegrenzte Verantwortungssphären ist falsch! Schon jetzt fliegen die Bw-Tornados zur Aufklärung überwiegend im Süden und Südosten Afghanistans, der OEF-Kampfzone und schon jetzt sind ISAF-Soldaten, auch deutsche, im Süden eingesetzt. Sie "schaffen die Rechtsgrundlage" für die unmittelbare Weiterleitung ihrer Aufklärungsergebnisse an die US-Jabos und Bodentruppen.

Trotzdem hebt dieses bedauerliche Urteil weder die Rechtswidrigkeit der rücksichtslosen Waffeneinsätze der OEF-Soldaten, die die Zivilbevölkerung unverhältnismäßig treffen, auf, und auch nicht die Rechtwidrigkeit, Gefangene zu foltern und wie Tiere einpferchen.


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