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Schutz oder Bombardierung der Bevölkerung?

Bundeskabinett beschloss "Tornado"-Einsatz in Afghanistan

07. Februar 2007 *

"Wir sind die Guten". Dieser Werbeslogan eines Unternehmens könnte auch die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung kennzeichnen. Das Bundeskabinett hat am Mittwoch den Einsatz von Tornado-Aufklärungsflugzeugen beschlossen und der Verteidigungsminister erklärte, die Flugzeuge dienten dem Schutz der ISAF-Soldaten, der Zivilbevölkerung und des Wiederaufbauteams. Die Friedensbewegung und einige Politiker hingegen meinen, die "Aufklärung" durch die Tornados diene der Zielbestimmung für nachfolgende Bombardierungen, wobei sowohl Soldaten als auch Zivilisten von den Bomben getroffen werden würden. Die "Bild"-Zeitung und "Spiegel Online" sind offenbar der Auffassung, dass man nicht länger mit humanitärem Geschwätz um den heißen Brei herumreden solle. "Sind wir jetzt im Krieg?" titelte Bild. Und Spiegel Online sekundierte: "Wer Krieg führt, soll auch Krieg sagen". Der Krieg in Afghanistan wurde vor Jahren auch deswegen begonnen, weil man den Menschen in Afghanistan, insbesondere den Frauen und Mädchen, die Demokratie bringen wollte. Deutschland macht vor, wie die Demokratie funktioniert: Trotz der Ablehnung des Tornado-Einsatzes durch 77 Prozent der Bevölkerung, wurde eben dies von den Ministerinnen und Minister der deutschen Bundesregierung beschlossen.

Das Bundeskabinett hat am 7. Februar beschlossen, Aufklärungsmaschinen des Typs "Tornado" sowie bis zu 500 weitere Soldaten nach Afghanistan zu entsenden. Derzeit sind 2900 Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan im Einsatz. Das letzte Wort zu diesem Einsatz haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages.

Die Flugzeuge und das Personal am Boden sollen im nordafghanischen Mazar-e-Sharif stationiert werden und nach Angaben des des Bundesverteidigungsministeriums "eine wichtige Fähigkeitslücke der NATO-Truppe ISAF (International Security Assistance Force) schließen". Ausgestattet mit optischen und Infrarot-Kamerasystemen könnten sie Tag und Nacht eingesetzt werden. Die Bilder der RECCE-Tornados sollen nach der Landung am Boden ausgewertet werden.

Bis Mitte April sollen in Mazar-E-Sharif stets sechs Tornados einsatzbereit sein. Das Mandat wäre vorläufig bis zum 13. Oktober befristet. Die Kosten des Einsatzes liegen den Angaben zufolge bei rund 35 Millionen Euro. Voraussichtlich im März wird sich der Bundestag mit dem Antrag der Bundesregierung beschäftigen. Verteidigungsminister Jung warb für eine breite Zustimmung der Parlamentarier und versprach: "Es wird sicherer durch diesen Einsatz - auch für unsere Soldaten."

Jung: Aufklärung ist kein Kampfeinsatz

Verteidigungsminister Franz Josef Jung und der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wolfgang Schneiderhan, begründeten auf einer Pressekonferenz in Berlin den geplanten Einsatz: "Aufklärung bedeutet einen zusätzlichen Schutz. Aufklärung ist kein Kampfeinsatz", sagte Jung.

Der Einsatz der Maschinen erhöhe die Sicherheit aller ISAF-Soldaten, der Wiederaufbauhelfer und der afghanischen Bevölkerung im ganzen Land. Jung unterstrich zugleich den vernetzten sicherheitspolitischen Ansatz für das Land: "Ohne Sicherheit kein Wiederaufbau. Und ohne Wiederaufbau keine Sicherheit."

General Schneiderhan: Militante oppositionelle Kräfte

Der ranghöchste Soldat der Bundeswehr, General Schneiderhan, sagte, angesichts der Größe Afghanistans würde ein Einsatz der Tornados der "Verfeinerung und Verbesserung des Lagebildes" dienen und die Bewegungsfreiheit "militanter oppositioneller Kräfte" einschränken. Den Besatzungen der Maschinen, die zum Aufklärungsgeschwader 51 im schleswig-holsteinischen Jagel gehören, attestierte Schneiderhan eine ausgezeichnete Ausbildung und einen hohen Bereitschaftsstand.

Schneiderhan räumte ein, dass die "Tornados" Ziel von tragbaren Abwehrraketen werden könnten. Die Piloten seien aber gut ausgebildet und könnten darauf mit Warnempfängern, Täuschsendern und Bordkanonen reagieren. "Ich halte dieses Risiko für verantwortbar", sagte der General, der im Gegensatz zu den Piloten und der Bevölkerung vor Ort das Risiko persönlich nicht tragen muss.

Strutynski: Regierung von allen guten Geistern verlassen

Der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Peter Strutynski, sagte, dass für April oder Mai eine neue Militäroffensive der US-Streitkräfte und ihrer Verbündeten in Südafghanistan angekündigt worden sei, "in deren Dienst die deutschen Maschinen stehen würden".

Der Tornadoeinsatz sei längst nicht so harmlos, wie er von amtlicher Seite dargestellt werde. "Es handelt sich keineswegs nur darum, den alliierten Truppen zu einer besseren 'Aufklärung' im Süden Afghanistans zu verhelfen", meint Strutynski. "Vielmehr dient der Einsatz dazu, die Zielfindung der NATO bei ihren Bombenangriffen auf vermeintliche Taliban-Stützpunkte zu verbessern. Der Krieg wird dadurch ausgeweitet, auch zivile Ziele werden in noch größerem Umfang ins Visier genommen, noch mehr Menschen werden in Afghanistan sterben, Häuser und Dörfer dem Erdboden gleich gemacht." Die Bundeswehr werde in noch mehr Kämpfe verstrickt.

"Die Bundesregierung ist nicht nur von allen guten Geistern, sondern auch von der großen Mehrheit der Bevölkerung verlassen", so Strutynski. Nach einer gestern veröffentlichten Forsa-Umfrage im Auftrag der friedenspolitischen Organisation IPPNW seien mehr als drei Viertel der Bundesbürger (77 Prozent) dagegen, dass die Bundesregierung Tornados in den Afghanistan-Kriegsschauplatz schicke. Lediglich 21 Prozent sprächen sich dafür aus. "Selbst die Anhänger der Regierungsparteien sind zu über zwei Dritteln gegen den Tornadoeinsatz."

Strutynski: Keine demokratische Legitimation

Die Bundesregierung habe wieder einmal unter Beweis gestellt, dass ihr die "Bündnissolidarität" mit den USA wichtiger sei "als die demokratische Legitimation ihrer Politik bei Souverän, dem Volk". Noch im September letzten Jahren sei anlässlich der Verlängerung des ISAF-Mandats des Bundestags versprochen worden, dass die Bundeswehr nicht in die Kämpfe im Süden Afghanistans eingreifen würde. "Gewiss wurde mit diesem Versprechen der eine oder die andere Abgeordnete geködert, dem ISAF-Mandat zuzustimmen", vermutet Strutynski.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag ruft die Friedensbewegung dazu auf, die Zeit bis zur endgültigen Abstimmung im Deutschen Bundestag "zu nutzen, um überall im Land über die tiefe Verstrickung der Bundeswehr in den Afghanistankrieg aufzuklären". Der Samstag vor der Bundestagsabstimmung, der 3. März, solle ein bundesweiter Aktionstag gegen die Ausweitung des Krieges werden. Zuvor würden die Bundestagsabgeordneten mit Briefen und e-mails "bombardiert", um sie zur friedenspolitischen Vernunft zu bringen und im Bundestag "nicht schon wieder den Mehrheitswillen der Bevölkerung mit Füßen zu treten".

Die FDP prüft und fordert "Einfluss auf die Kampfführung"

Die oppositionelle FDP-Bundestagsfraktion will die Vorlage der Bundesregierung "unvoreingenommen prüfen". Die Bundesregierung sollte aber zunächst "ehrlicher informieren", fordern die stellvertretenden Vorsitzenden der Fraktion Birgit Homburger und Werner Hoyer.

"Entgegen den wiederholten Aussagen von Verteidigungsminister Jung schließen die deutschen Recce-Tornados keine Fähigkeitslücke der NATO in Afghanistan, sondern sie ersetzen lediglich britische Harrier, die bisher die Luftaufklärung wahrnehmen und zukünftig andere Aufgaben in Afghanistan übernehmen", meinen die Abgeordneten.

Die Bundesregierung bleibe die Antwort auf die Frage schuldig, ob nicht auch andere NATO-Partner "diese Aufklärungsrolle in gleicher Qualität" hätten übernehmen können. Darüber hinaus erwartet die FDP eindeutige Auskunft darüber, welchen Einfluss die Bundesregierung auf die ISAF-Operationsplanung bei möglichen Einsätzen deutscher Recce-Tornados in Afghanistan hat. "Wenn die Bundeswehr Aufklärungsmaterial liefert dann muss damit auch ein Einfluss auf die Kampfführung verbunden sein", verlangen die Politiker.

Partei- und Fraktionschef Guido Westerwelle sagte am Mittwoch in München, es müsse sichergestellt werden, dass keine deutschen Truppen im Süden Afghanistans eingesetzt würden. Westerwelle sprach von der "absolut realen" Gefahr einer "Rutschbahn", an deren Ende ein Truppeneinsatz im Süden des Landes stehe.

Roth: Die Bundesregierung muss auf die Operationsführung Einfluss nehmen können

Die grüne Bundesvorsitzende Claudia Roth findet das Agieren der Bundesregierung der Form wie dem Inhalt nach inakzeptabel. Auf der Grundlage von "unvollständigen, intransparenten und offenbar interessegeleiteten Informationen" sei keine verantwortliche Entscheidung des Parlaments möglich.

"Es ist eine direkte Missachtung des Parlaments, wenn die Presse schneller informiert wird als die Parlamentarier, die hier entscheiden müssen", kritisiert Roth. "Keine klare Aussage der Bundesregierung gibt es bisher auf die Frage, wofür die Tornados konkret benötigt werden. Wenn offensichtlich Bilder von Taliban-Stellungen gemacht und auch an Nato-Partner weitergeben werden sollen, bleibt unklar, ob die Bundeswehr dann einen Einfluss auf die weitere Verwendung dieser Informationen hat.

Die Bundesregierung müsse jetzt unmissverständlich sagen, welchem Zweck der Tornado-Einsatz dienen solle. Die Bundesregierung müsse "auf Operationsführung und Verwendung der Aufklärungsergebnisse Einfluss nehmen können und darf hier keinen Blankoscheck ausstellen. Wir unterstützen auch die militärische Komponente bei der Absicherung des Wiederaufbaus - so wie bisher beim ISAF-Einsatz deutscher Soldaten - aber keinen 'Krieg gegen den Terrorismus', wie er im Rahmen von OEF geführt wird", so Roth. "Dieser erscheint immer mehr als ein Krieg gegen die Paschtunen und die Zivilbevölkerung, der kontraproduktiv ist, weil er Spannungen verschärft statt sie abzubauen."

Lafontaine: Übermittlung von Zieldaten für NATO-Bombardements

Linksfraktionschef Oskar Lafontaine sagte, die Bundesregierung verwickele Deutschland direkt in den Krieg in Afghanistan. Dieser Kurs torpediere alle Bemühungen um einen friedlichen Wiederaufbau in Afghanistan, gefährde das Leben deutscher Soldaten und hole den Terror ins Land. "Erneut handelt die Bundesregierung damit im Widerspruch zur übergroßen Mehrheit des Volkes."

Die Entwicklungen in Afghanistan zeigten jeden Tag, dass die NATO-Strategie der militärischen Eskalation zum Scheitern verurteilt sei und nur die zivilen Opferzahlen in die Höhe treibe, so Lafontaine. "Der Tornado-Einsatz mit der Übermittlung von Zieldaten für NATO-Bombardements trägt unmittelbar zu einer Kriegführung bei, die viele unschuldige, zivile Opfer fordert und damit völkerrechtswidrig ist." Die Bundeswehr dürfe sich nicht an einer neuen militärischen Offensive im Frühjahr beteiligen.

"Die von der Opposition durchgesetzte erneute Befassung des Bundestages muss deshalb dazu führen, dass es kein neues Mandat für diese unmittelbare deutsche Kriegsbeteiligung gibt", fordert der ehemalige SPD-Vorsitzende. "Die Mitglieder der obersten Volksvertretung sollten dem Mehrheitswillen der Deutschen Geltung verschaffen."

Wimmer: Die sogenannten Restriktionen dienen nur der Täuschung der Öffentlichkeit

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer lehnt den Einsatz von "Tornado"-Aufklärungsjets der Bundeswehr in Afghanistan ab. Die Einschränkungen bei der Datenübergabe sollten nur über den wahren Charakter des Einsatzes täuschen, sagte der frühere Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium "Spiegel Online".

"Wenn die Tornados einmal in Afghanistan sind, dann ist diese Entscheidung des Kabinetts das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist", so Wimmer. "Die so genannten Restriktionen dienen doch nur dazu, die Öffentlichkeit über den wahren Charakter dieses Einsatzes zu täuschen. Ich bin überzeugt, dass wir auf Dauer unweigerlich in die Kämpfe im Süden mit hineingezogen werden."

Die "unterschiedslose Kriegsführung" der Angelsachsen auch gegen Zivilisten ist nach Auffassung von Wimmer "ein eklatanter Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht". Das wüssten alle Beteiligten, vor allem in der Bundeswehr, die sich damit beschäftigten. "Die Weitergabe von Daten für Operationen, bei denen Zivilisten getötet würden, wäre strafrechtlich als Beihilfe zu bewerten."

Wimmer verweist auf einen deutschen General, der sich erst kürzlich entsetzt über die Operation Medusa geäußert habe, bei der in Afghanistan "Hunderte Tote zu beklagen waren - darunter viele Zivilisten".

Kolbow: Natürlich werden die Aufklärungs-Ergebnisse auch zur Bekämpfung der Taliban genutzt

Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Walter Kolbow, sagte, der geplante Einsatz von Tornado-Aufklärungsflugzeugen stehe im Einklang mit der bisher verfolgten ISAF-Strategie in Afghanistan. "Bereits bei der Verlängerung des ISAF-Mandates im September 2006 war die Ausdehnung des Einsatzgebietes auf das ganze Land absehbar", so der SPD-Politiker. "Besonders im Süden und Osten des Landes sehen sich die Truppen unserer Verbündeten seitdem mit zunehmendem Widerstand der Taliban konfrontiert. Auch Deutschland ist für den Erfolg der Gesamtmission mit verantwortlich."

Eine verbesserte Aufklärung diene "auch dem Schutz eigener Kräfte, deutscher Entwicklungshelfer, Soldaten und nicht zuletzt auch der afghanischen Bevölkerung", so Kolbow. "Natürlich werden die Ergebnisse auch zur Bekämpfung der Taliban durch die ISAF genutzt." Aber dies seien die Kräfte, welche die Lage in Afghanistan destabilisierten und die Autorität der afghanischen Regierung unterminierten. "Diese bewaffneten oppositionellen Kräfte dürfen nicht die Oberhand gewinnen; dies zu verhindern ist auch Aufgabe der ISAF-Mission."

Quelle: ngo-online; www.ngo-online.de


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