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Trauer muss Folgen haben

Im Wortlaut: Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag zum Tod von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan

Beim schwersten Anschlag auf die Bundeswehr in Afghanistan seit 2003 (siehe die Chronik der Anschläge) sind am Samstag, 19. Mai 2007 drei deutsche Soldaten und fünf afghanische Zivilisten getötet worden. Fünf Bundeswehrsoldaten, ein Übersetzer und 16 Zivilisten seien verletzt worden, als sich ein Selbstmordattentäter am Samstagmorgen neben einer Fußpatrouille in Kundus in die Luft sprengte, sagte Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) am Samstagabend im Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Geltow bei Potsdam. Bundesregierung, Bundestag und Parteien reagierten entsetzt und sprachen den Angehörigen ihr Mitgefühl aus. Die Politiker ließen aber keinen Zweifel daran, dass die Bundeswehr weiter zur Stabilisierung Afghanistans eingesetzt werde. Als einzige forderte die Linksfraktion den Abzug der Truppen. Jung warf den Linken politischen Missbrauch eines "hinterhältigen Anschlags" vor und dankte der SPD für die Unterstützung des Einsatzes. "Es darf nichts an dem Auftrag geändert werden", betonte der Minister.
Im Folgenden dokumentieren wir eine erste Stellungnahme aus der Friedensbewegung.



Trauer muss Folgen haben

Pressemitteilung des Bundesausschusses Friedensratschlag
  • Trauer um Tod deutscher Soldaten
  • Verantwortung liegt bei Regierungskoalition
  • Afghanistan-Einsatz gescheitert
  • Sechs Gründe gegen Fortsetzung des Militäreinsatzes
  • Zivile Hilfe statt Krieg
  • Friedensbewegung verstärkt Kampagne
Kassel, 19. Mai - Zum Tod der deutschen Soldaten in Afghanistan veröffentlichte der Bundesausschuss Friedensratschlag folgende Stellungnahme:

"Es sind nicht die ersten Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan ihr Leben lassen mussten. Es sollten aber die letzten gewesen sein", sagte der Sprecher des "Friedensratschlags" in einer ersten Reaktion auf den Anschlag vom Samstag. Voraussetzung dafür sei aber eine radikale Änderung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.

Die Friedensbewegung teilt mit den Angehörigen der Soldaten die Trauer um die drei Getöteten. Sie tut dies umso mehr, als der schreckliche Tod der jungen Menschen vermeidbar gewesen wäre. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag tragen die Verantwortung für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan - ob im Rahmen von ISAF oder von Enduring Freedom. Noch im März hat der Bundestag gegen den Rat zahlreicher humanitärer Organisationen und gegen den Protest der Friedensbewegung den Einsatz zusätzlicher Tornado-Flugzeuge beschlossen.

Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der Einsatz nicht ohne Risiko für die Soldaten sei. Wenn derselbe Minister auf den jüngsten Anschlag mit einem trotzigen "Weiter so" reagiert, handelt er schlicht fahrlässig und nimmt bewusst weitere Opfer in Kauf. "Man müsse den Soldaten den Rücken stärken, statt über ihren Einsatz zu debattieren", wird er heute zitiert. Noch im März hatte Franz Josef Jung in einem Interview mit der Online-Ausgabe der FAZ eingeräumt, dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr "genau" begründet werden müssten. Wörtlich sagte er: "Sollte es zu größeren Verlusten unter Bundeswehrsoldaten kommen - was Gott verhüten möge -, könnte die Diskussion über den Sinn der Auslandseinsätze kritischer werden. Deswegen ist es so wichtig, jeden Einsatz genau zu begründen und die Soldaten mit dem größtmöglichen Schutz ins Ausland zu schicken." (FAZ-net, 5. März 2007)

Ein weiteres militärisches Engagement in Afghanistan ist spätestens heute nicht mehr zu "begründen". Im Gegenteil: Viele Gründe sprechen für eine sofortige Beendigung des Krieges. Wir nennen nur sechs:
  1. Außer wohl klingenden Phrasen über die Erfolge, die das fünfeinhalbjährige Afghanistan-Engagement beim Aufbau der Demokratie angeblich gebracht hätte, hat die Bundesregierung bisher keine schlüssigen Beweise liefern können. Vielmehr zeigt ein nüchterner Blick in die afghanische Realität, dass heute Afghanistan von demokratischen Verhältnissen ähnlich weit entfernt ist wie vor fünf Jahren. In den meisten Regionen regieren Warlords und Drogenbarone. Die Autorität der afghanischen Regierung reicht kaum über die Grenzen der Hauptstadt Kabul hinaus. Dass gerade in den letzten Monaten Gewalt, Terror und Drogenhandel in Afghanistan so stark zugenommen haben, zeigt die Erfolglosigkeit der unter UNO-Flagge operierenden, von der NATO geführten Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF).
  2. Auch die Menschenrechtssituation hat sich nicht entscheidend verbessert. Wiederholte Berichte von amnesty international und Human Rights Watch zeigen, dass die Sicherheit der Menschen vor kriminellen oder terroristischen Angriffen genauso wenig gestärkt wurde wie die Rechte der Frauen und Mädchen. Die Situation hat sich nach Ansicht der afghanischen Frauenministerin Massouda Jallal (Sept. 2006) in weiten Teilen des Landes sogar noch verschlechtert. Andauernde Enthüllungen über die Misshandlung von Gefangenen durch US-Truppen tragen ebenfalls nicht dazu bei, in der afghanischen Gesellschaft den Respekt vor der universellen Gültigkeit der Menschenrechte zu erhöhen.
  3. In den letzten Monaten häufen sich darüber hinaus die Vorfälle, bei denen Zivilpersonen, darunter unschuldige Frauen und Kinder im Bombenhagel der alliierten Kampfflugzeuge ums Leben kommen. Die Bevölkerung in Afghanistan ist darüber so aufgebracht, dass selbst der engste Verbündete der USA, Präsident Hamid Karsai, inzwischen öffentlich die NATO-Truppen kritisiert. "Wir können zivile Opfer und die Art, wie sie ausgelöst werden, nicht mehr hinnehmen", sagte Karsai am 2. Mai nach Gesprächen mit den Verantwortlichen der NATO und der US-geführten Koalition sowie Vertretern der US-Botschaft, der Vereinten Nationen und der Europäischen Union in Kabul. Es werde "ärgerlich" für sein Land. Die Last für Afghanistan sei zu groß, "und wir sind sehr unzufrieden".
  4. Die Bundeswehr hatte schon vor dem Tornado-Einsatz ihr Einsatzgebiet grundsätzlich auf ganz Afghanistan ausgedehnt, und zwar "bei Bedarf" und "zeitlich und im Umfang begrenzt". Den "Bedarf" definiert der NATO-Stab, der den ISAF-Einsatz befehligt. Damit wächst, wie Verteidigungsminister Jung verschiedentlich eingestanden hat, das Risiko, auch in größere Kampfhandlungen verwickelt zu werden. Aus Sicht der Taliban gehören auch Selbstmordanschläge, denen jetzt die Bundeswehrsoldaten zum Opfer fielen, zu den normalen "Kampfhandlungen".
  5. Sieht man sich schließlich die eingesetzten Mittel an, so wird klar, warum der versprochene zivile Wiederaufbau des Landes nicht gelingen kann. Seit 2002 wurden in Afghanistan 85 Mrd. Dollar für Militärmaßnahmen, dagegen nur 7,5 Mrd. Dollar für den zivilen Wiederaufbau eingesetzt. Und auch diese Mittel konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Hauptstadt Kabul und vernachlässigten vor allem die Paschtunengebiete. Die Opiumproduktion steigt mit jedem Jahr Krieg weiter an: Seit 2001 hat sie sich verzehnfacht. Afghanistan ist heute der weltgrößte Rauschgiftproduzent.
  6. Eine Fortsetzung des Krieges - mit noch so verbesserter Ausrüstung und vergrößerter Heeresstärke - wird kein anderes Ergebnis haben als der Krieg der Sowjetarmee in den 80er Jahren: Sie musste - trotz überlegenem Einsatz von modernen Waffen und Luftaufklärung! - sich schließlich geschlagen aus Afghanistan zurückziehen und den Taliban das Feld überlassen. Auf sowjetischer Seite starben 14.000 Soldaten, etwa 100.000 wurden zu Krüppeln.
Den unverantwortlichen Durchhalteparolen der Regierungskoalition, der Grünen und der FDP stellt die Friedensbewegung ihre Forderung nach einer Beendigung des militärischen Engagements in Afghanistan entgegen. Deutschland wäre gut beraten, in den Gebieten, wo dies möglich ist, humanitäre, wirtschaftliche und soziale Projekte einschließlich eines anreizbezogenen Ersatzes von Schlafmohnanbau zu fördern. Der Afghanistan-Einsatz verschlingt in diesem Jahr rund 500 Mio. Euro. Der Gesamtbetrag für die "Verteidigung" Deutschlands am Hindukusch hat die Zwei-Milliarden-Grenze weit überschritten. Damit gibt Deutschland für einen zweifelhaften Militäreinsatz ein Vielfaches von dem aus, was in dringend notwendige zivile Hilfsprojekte geflossen ist oder noch fließen wird. Eine Aufstockung der Mittel für den zivilen Aufbau wäre bei gleichzeitiger Beendigung des Militäreinsatzes kein Problem.

Der Bundesausschuss Friedensratschlag wird in den nächsten Tagen mit anderen Friedensorganisationen darüber beraten, wie ihre Kampagne zur Beendigung des Bundeswehreinsatzes in den nächsten Wochen und Monaten verstärkt werden kann. Ein "Durchwinken" der Verlängerung des ISAF-Mandats und des Enduring-Freedom-Mandats im Deutschen Bundestag im kommenden September wird es nicht mehr geben.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Peter Strutynski (Sprecher)


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