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Kundus und das Kreuz der Tapferkeit

Afghanistan: Drei deutsche Soldaten bei Gefecht mit Taliban getötet

Von René Heilig *

Am Dienstag (23. Juni) um 9.29 Uhr MESZ wurden drei deutsche Soldaten in der nordafghanischen Region Kundus getötet. Damit erhöht sich die Anzahl der in Afghanistan umgekommenen Bundeswehrangehörigen auf 35.

Das Verteidigungsministerium in Berlin kannte zwar die exakte Uhrzeit, doch den genauen Hergang der Militäraktion wollte man gestern Nachmittag weder im Berliner Bendler-Block noch beim Potsdamer Einsatzführungskommando kommentieren. Offenbar ist Folgendes geschehen: Im Rahmen einer gemeinsamen Operation deutscher und afghanischer Sicherheitskräfte rund sechs Kilometer südwestlich der Basis des Regionalen Wiederaufbauteams Kundus war die Patrouille mit Handfeuerwaffen und Panzerbüchsen attackiert worden. Die Gefechte bei der Ortschaft Amanullah müssen heftig gewesen sein, denn die Angegriffenen forderten Verstärkung und Luftnahunterstützung an.

Bei einem Ausweichmanöver sei ein deutscher Fuchs-Transportpanzer in einen Wassergraben gestürzt und umgekippt. Dabei seien zwei deutsche Soldaten getötet worden. Ob sie ertranken oder durch den Unfall ums Leben kamen, war gestern Abend noch unklar. Ein weiterer Soldat starb später an seinen schweren Verletzungen. Einer der Getöteten soll aus Zweibrücken in Rheinland-Pfalz kommen, die anderen waren aus Bad Salzungen in Thüringen. Die Taliban haben sich zu dem Angriff bekannt.

Die vor allem durch Paschtunen besiedelte Region um Kundus galt noch vor einem Jahr als relativ ruhig. Inzwischen jedoch hat sich die Situation gewandelt. Die Bundeswehr hat sich zunehmend Angriffen mit Handfeuerwaffen, Raketen und Sprengfallen zu erwehren. Immer öfter kommt es zu militärisch organisierten Angriffen. Deshalb gerät der ursprünglich relativ hohe Anteil an humanitärer Hilfe aus Deutschland immer mehr ins Hintertreffen. Beobachter berichten, dass Krankenstationen schließen müssen und Mädchen Angst haben, zur Schule zu gehen. Derzeit sind 3720 deutsche Soldaten in Afghanistan. Demnächst werden sie durch rund 300 Kameraden verstärkt, die zusätzlich verlegte AWACS-Luftaufklärungs- und Leitsysteme bedienen sollen.

Zunehmend wird jedoch aus militärischen Kreisen Kritik an der Kriegführung in Afghanistan laut. So fordern höhere Offiziere, dass zusätzlich zu den vorhandenen Tornado-Aufklärern auch deutsche Tornado-Jagdbomber an den Hindukusch verlegt werden, um die bislang bei den härter werdenden Gefechten vermisste Luftunterstützung zu garantieren. Selbst Wehrexperten der schwarz-roten Regierungskoalition denken öffentlich darüber nach, bei den Alliierten Kampfhubschrauber zu leasen, da die Bundeswehr über keine entsprechenden Waffen verfügt.

Doch zunächst verstärkt Schwarz-Rot erst einmal die Propaganda. Am 6. Juli, zu Beginn der parlamentarischen Sommerpause, will Kanzlerin Angela Merkel erstmals eine neue Auszeichnung – das »Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit« (Foto) – an vier Soldaten verleihen, die sich nach einem Anschlag im Oktober 2008 in Kundus um verletzte Kameraden gekümmert hatten.

Während Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) sowie der SPD-Kanzlerkandidat und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier den »feigen Angriff«, auf das Schärfste verurteilten, äußerte die Linksfraktion »tiefstes Mitgefühl« für die Angehörigen der toten Soldaten. Zugleich jedoch erneuerte Fraktionschef Gregor Gysi die Forderung: »Die Bundeswehr muss Afghanistan verlassen.«

* Aus: Neues Deutschland, 24. Juni 2009

Pressestimmen

Der verleugnete Krieg

Von Steffen Hebestreit (Auszug) Auf die Bundeswehrsoldaten in Kundus, Faisabad oder Masar-i-Sharif muss die aktuelle Debatte in Deutschland seltsam wirken. Da streitet der Verteidigungsminister mit dem Wehrbeauftragten, ob sich die Soldaten in Afghanistan nun in einem Krieg befänden oder nicht.

(...)

Viel wichtiger wäre es jetzt, sich noch einmal zu vergewissern, weshalb sich die Bundeswehr überhaupt in Afghanistan befindet. Welche Ziele sie dort erreichen will und soll - und ob die gewählten Mittel dafür denn die richtigen sind. Diese Debatte lässt sich, wenn sie ernsthaft geführt wird, nicht verkürzen auf ein "Weiter so!". Genauso wenig wie auf das - immer populärer werdende - "Raus aus Afghanistan!".

Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr krankt vor allem daran, dass sich die politische Führung in Deutschland seltsam desinteressiert zeigt an diesem Krieg (!). Die Bundeskanzlerin hat gerade mal zwei Stippvisiten in Afghanistan gemacht. Keine zentrale Rede, kein überzeugender Auftritt bleiben nach knapp vier Jahren Merkel in Erinnerung. Nein, die große Koalition tut so, als sei der Krieg in Afghanistan nur eine Angelegenheit von Franz Josef Jung. Das ist aber falsch, er geht uns alle an.

Frankfurter Rundschau, 24. Juni 2009


Krieg führen - mit aller Konsequenz?

Von Robert Birnbaum (Auszug)

(...) In Afghanistan herrscht Krieg. Das ist für andere Nationen nicht neu. Allein die britische Armee im Süden des Landes hat seit Jahresanfang rund 130 Gefallene zu beklagen – alle zwei Tage ein Toter. Die deutsche Politik hat sich selbst lange mit dem Gedanken an den ruhigen Norden beruhigt. Als es dort im vorigen Jahr kriegerischer wurde, kam das gerade recht, um Forderungen der Verbündeten nach Ausweitung der deutschen Kampfzone abzublocken: So ruhig sei es rund um Kundus nicht. Seit ein paar Wochen ist der Krieg im Norden angekommen. Gefahr geht nicht mehr allein von Selbstmordattentätern und ferngezündeten Bomben am Straßenrand aus. Patrouillen werden überfallen, müssen in stundenlangen Feuergefechten standhalten. Die jüngsten Toten werden nicht die letzten sein.

(...) Tatsächlich stellt die neue, die offene Kriegführung der Taliban die Bundeswehr und ihre politischen Auftraggeber vor die Grundsatzfrage: Sind wir bereit, unsere Sicherheit am Hindukusch mit aller Konsequenz zu verteidigen?

Lange sah diese Konsequenz ja so aus, dass deutsche Soldaten mit einem Freund-und-Helfer-Image versehen wurden. Gekämpft wurde, aber heimlich und nur, wenn es gar nicht anders ging. „Mit aller Konsequenz“ heißt heute etwas völlig anderes. Die Aufständischen legen es auf offene Gefechte an. Militärisch haben sie damit keine Chance auf Sieg. Psychologisch haben sie ihn sehr wohl. Denn die Menschen in den Dörfern Afghanistans gucken sich sehr genau an, ob die fremden Krieger nur sich selbst verteidigen und zulassen, dass die Taliban sich wieder einnisten – oder ob sie die Angreifer verfolgen und stellen. Über die Aussichten, dabei rasch die Oberhand zu gewinnen, darf man sich keiner Illusion hingeben. Aber ein Krieg, der ohne Konsequenz geführt wird, kostet Menschenleben – sinnlos.

Tagesspiegel, 24. Juni 2009


Ein Krieg, der sich Frieden nennt

Von Felix Lee (Auszüge)

(...) Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) hat es also amtlich gemacht: Zwar mag er nach wie vor nicht von einem "Kriegseinsatz" sprechen. Ihm ist aber immerhin das Wort "gefallen" über die Lippen gekommen. Und da im deutschen Sprachraum dieses bei toten Soldaten immer im Zusammenhang mit Kriegen steht, hat der Verteidigungsminister indirekt zugeben, womit er sich bislang so schwer getan hat: Ja, die Bundesrepublik Deutschland befindet sich im Krieg.

(...)

Vielleicht ist es etwas spitzfindig, darüber zu streiten, ob es sich beim Einsatz der deutschen Soldaten in Afghanistan um eine Mission handelt, vergleichbar etwa mit einem Einsatz der freiwilligen Feuerwehr, wenn sie an einem besonders trockenen Sommertag mal wieder die Straßenbäume gießen muss. Oder ob es sich um einen blutigen Krieg handelt mit stundenlangen Feuergefechten, bei denen die Einsatzkräfte tatsächlich um Leib und Leben fürchten müssen. Obwohl inzwischen mehr als 3.000 Bundeswehrsoldaten stationiert sind, interessiert sich hierzulande ohnehin kaum einer mehr, was am Hindukusch abgeht.

Der Wehrbeauftragte glaubt, dass erst die Schönrederei der Bundesregierung zum allgemeinen Desinteresse in Deutschland beigetragen habe. Die Linkspartei wiederum setzt auf eine weitgehend pazifizierte Gesellschaft hierzulande und hofft bereits, dass sich ein klar benannter deutscher Angriffskrieg tatsächlich politisch skandalieren lässt und sich dies in Wählerstimmen ummünzen lässt.

Wahrscheinlicher ist, dass es inzwischen selbst dem Gutwilligsten schwer fällt, weiter von einer erfolgreichen Bundeswehrmission zu sprechen. Es fehlt schlicht und einfach der Glaube ans Gelingen. Während die Vereinigten Staaten dabei sind, ihre Truppen massiv auf 60.000 Soldaten aufzustocken, weil sie längst sehen, dass mittlerweile im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet der Krieg gegen den islamistischen Terror eskaliert, will der deutsche Verteidigungsminister den Menschen hierzulande immer noch weismachen, dass die deutschen Soldaten dort Brunnen bohren und Brücken bauen. Kaum einer versteht, was der Bundeswehreinsatz überhaupt noch bringt und wie er irgendwann beendet werden könnte.

Übrigens: Eine Steigerung zu Jungs Bagatellisierung ist noch möglich. Im Fall der jüngsten drei getöteten Bundeswehrsoldaten spricht das Nato-Hauptquartier in Brüssel von "Verkehrsunfall".

taz, 24. Juni 2009




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