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Kämpfen wie im Zweiten Weltkrieg

An der "Heimatfront" feilscht derweil SPD-Steinmeier um das nächste Afghanistan-Mandat

Von René Heilig *

SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat die Zustimmung seiner Partei zur anstehenden Verlängerung des Afghanistan-Mandats von der Festschreibung eines Rückzugstermins abhängig gemacht. Das melden Agenturen und so steht es in Schlagzeilen. Allein: So hat Steinmeier es der »Bild am Sonntag« (26. Dez.) nicht gesagt.

»Für die Zustimmung der SPD muss der Beginn des Rückzugs im Mandat enthalten sein«, sagte Steinmeier. Das sei »eine Frage der Glaubwürdigkeit«. Schon im Afghanistan-Mandat vom Januar 2010 sei der beginnende Rückzug deutscher Soldaten beschrieben. »Das muss 2011 durch konkretes Tun untermauert werden.«

»Beginn des Rückzugs«, sagte Steinmeier. Also ein bisschen weniger Krieg. Quasi ein Einstieg in den Ausstieg – wenn man sich die AKW-Phrase zueigen machen will. Schwammiger geht es nicht. Glaubwürdigkeit muss man bei der SPD gar nicht erst suchen. Seitdem sie in die Oppositionsrolle geschickt wurde, eiert die Partei, die den deutschen Afghanistan-Feldzug eröffnet hat, herum. Beispiel: Im vergangenen April, als das Kriegsmandat mal wieder um ein Jahr verlängert wurde, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel im Parlament: »Wir bekennen uns – das sage ich nochmals – zur internationalen Verantwortung für den Einsatz ... Nur so lange, wie wir selbst die Erreichbarkeit der Ziele für möglich halten, dürfen wir Soldaten in den Einsatz schicken. Nur so lange, wie eine klare und unmissverständliche Grundlage für unsere Entscheidungen besteht und diese vor uns selbst zu rechtfertigen ist, können wir es anderen zumuten, in lebensgefährliche Situationen zu geraten. Das ist der Grund, warum die SPD eine solche Überprüfung einfordert, bevor wir das nächste Mal, in ca. einem Jahr, über das Mandat entscheiden.«

Nun ist das nächste Mal – ein wenig vorgezogen, weil weder Union noch FDP, SPD und Grüne diese Entscheidung im Umfeld der anstehenden Landtagswahlen treffen wollen. Wie ist das nun mit den zu erreichenden Zielen. 2014 will man, so beschloss es die NATO, die Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben haben. Im »Spiegel«-Interview redet General Egon Ramms – unlängst noch NATO-Befehlshaber für Afghanistan – Klartext: »Die Afghanen werden 2014 noch nicht selbst für ihre Sicherheit sorgen können ... Aber schon im Jahr 2016 oder 2017 könnte es soweit sein.«

Noch vor zwei Jahren sprach man vom vergleichsweise ruhigen Nordsektor, den die Bundeswehr verantwortet. Doch die bereits jetzt harten und opferreichen Kämpfe sind nur ein Vorgeschmack auf Kommendes. Das belegt ein Weihnachtsbesuch von ISAF-Oberbefehlshaber David Petraeus bei der im Norden (angeblich unter deutschem Befehl) stationierten 10. US-Mountain Division. Er sei »nirgends lieber als hier«, sagte der US-General, denn »hier liegt der Schwerpunkt unserer Anstrengungen«. Auch der Propagandaaufmarsch der US-Medien samt Militärpresse spricht dafür, dass es im deutschen Sektor demnächst noch heißer zur Sache geht. Petraeus fand im AP-Interview auch »lobende« Worte für die Bundeswehr. Während die Kanzlerin beim jüngsten Afghanistan-Trip sich nur daran erinnert fühlte, »was man von den Eltern aus dem Zweiten Weltkrieg erfahren hat«, bescheinigte Petraeus den deutschen Soldaten, sie würden erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder »eine beeindruckende Aufstandsbekämpfung« vorführen.

Doch nicht nur durch Petraeus' Lob fühlt man sich übel berührt. Manche Meldungen erinnern an vergangen geglaubte Begrifflichkeit von Wehrmachts-PK-Berichtern, die den Kampf gegen »Banden« beschrieben. Kurz vor Weihnachten hob man bei Kundus durch eine gemeinsame Operation zur Aufstandsbekämpfung einen »Taliban-Stützpunkt mit 40 Gebäuden« aus. Umgangssprachlich nennt man so etwas vermutlich Dorf.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Dezember 2010


Höchste Risikostufe

Von Knut Mellenthin **

Die militärische Lage in Afghanistan hat sich im ablaufenden Jahr nach Einschätzung der UNO weiter zuungunsten der NATO-Besatzungstruppen verschlechtert.

Die Weltorganisation widerspricht damit dem US-Präsidenten Barack Obama, der kürzlich vor Soldaten geprahlt hatte: »Heute können wir stolz sein, daß weniger Gebiete unter Kontrolle der Taliban stehen.« Das als neokonservativ geltende Wall Street Journal veröffentlichte am Montag (27. Dez.) zwei vertrauliche UN-Karten, auf denen die Lage im März des Jahres mit der im Oktober verglichen wird. Zwischen diesen beiden Monaten liegt witterungsbedingt die Hauptkampfzeit in Afghanistan. Die mehr als 300 Bezirke des Landes sind darauf unterschieden in »geringes Risiko«, »mittleres Risiko«, »hohes Risiko« und »sehr hohes Risiko«. Im Süden und Osten, wo für nahezu alle Bezirke die höchste Risikostufe gilt, hat sich trotz vieler Erfolgsmeldungen des US-Militärs die Lage nach dem Urteil der UNO kaum verändert.

Dagegen ist eine Reihe von Gebieten im Norden des Landes, die im Frühjahr noch als relativ sicher gegolten hatten, jetzt mit »hohes Risiko« bewertet. Insgesamt gilt das für 16 Bezirke in neun Provinzen. Fünf von diesen gehören zur Besatzungszone der deutschen Bundeswehr. Nur in zwei afghanischen Bezirken hat sich die Situation in den zurückliegenden Monaten verbessert. Diese liegen in Kundus, das zum deutschen, und in Herat, das zum italienischen Zuständigkeitsbereich gehört. Indessen wird der Nordosten, wo die Bundeswehr stationiert ist, immer noch überwiegend mit »geringes Risiko« eingestuft, während das Risiko im Westen des Landes um Herat als »hoch« gilt.

Die Verschlechterung der militärischen Lage wird in erster Linie darauf zurückgeführt, daß immer mehr Einheiten der Aufständischen vor den stark ausgeweiteten Kommandooperationen und Luftangriffen der USTruppen im Süden und Osten in andere Landesteile ausweichen. Die New York Times berichtete am Montag, die Zahl der Kommandooperationen sei im ablaufenden Jahr versechsfacht worden. Allein im vergangenen Vierteljahr habe es 1 784 solcher Aktionen gegeben, bei denen es hauptsächlich um das gezielte Töten von Kommandeuren der Aufständischen geht.

Nach den massiven Verstärkungen, die Obama im ersten Jahr seiner Amtszeit anordnete, sind derzeit rund 140000 Soldaten in Afghanistan stationiert, darunter zwei Drittel USAmerikaner. Die Aufstandstätigkeit wurde aber durch die immer stärkere Präsenz der Besatzungstruppen und das verschärfte Vorgehen in den von ihnen nicht kontrollierten Gebieten eher beflügelt als geschwächt. Einem Bericht des Pentagon an den Kongreß zufolge gab es im ablaufenden Jahr etwa 70 Prozent mehr Angriffe der Aufständischen als 2009 und dreimal so viele wie 2007.

Auch am Montag (27. Dez.) gab es mehrere Anschläge. Vor einer Bank in der südafghanischen Stadt Kandahar explodierte ein mit Sprengstoffe beladenes Fahrzeug. Drei Menschen wurden getötet, 20 verletzt. Das Attentat galt einem Geldinstitut, über das viele Soldaten und Polizisten ihr Gehalt bekommen. Ebenfalls in Südafghanistan kam ein NATO-Soldat bei der Explosion einer am Straßenrand versteckten Bombe ums Leben. Laut AP starben in diesem Jahr 697 Angehörige der Besatzungstruppen.

** Aus: junge Welt, 28. Dezember 2010

Auszug aus dem Artikel im Wall Street Journal

Auch Nichtregierungsorganisationen bestreiten, dass sich die Lage in Afghanistan im abgelaufenen Jahr verbessert habe. Eher ist das Gegenteil der Fall. Am Ende des Artikels im Wall Street Journal vom 26. Dezember 2010 schreibt der Autor, Yaroslav Trofimov:

Many nongovernment organizations, or NGOs, operating in Afghanistan dispute that any progress has been made by the coalition this year. According to preliminary statistics compiled by the Afghanistan NGO Safety Office, which provides security advice and coordination to NGOs working in the country, the number of insurgent-initiated attacks surged by some 66% in 2010 from the previous year.
"The country as a whole is dramatically worse off than a year ago, both in terms of the insurgency's geographical spread and its rate of attacks," said Nic Lee, director of the Afghanistan NGO Safety Office. "Vast amounts of the country remain insecure for the unarmed civilians, and more and more areas are becoming inaccessible."


Link zum ganzen Artikel: http://online.wsj.com [externer Link]




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