Was haben die Vereinten Nationen mit Afghanistan vor?
Über Absichten, Pläne und Schwierigkeiten ein Interview mit einem UN-Diplomaten
Das folgende Interview, dass in der Schweizerischen Wochenzeitung WoZ erschien, bietet einen interessanten Einblick nicht nur in die schwierigen Verhältnisse Afghanistans, sondern auch in die Schwierigkeiten, unter denen Diplomaten der Vereinten Nationen Kontakte abbrechen und doch aufrechterhalten müssen und unter denen humanitäre Hilfe weiter gewährt werden muss. Einen echten UN-Diplomaten macht es auch aus, dass er zum Krieg gegen Afghanistan keine Stellung bezieht, ja, ihn nicht einmal erwähnt.
Afghanistan: Was will die Uno?
Umdenken, aktiv warten
Ein Gespräch mit Thomas Ruttig, UNO-Büroleiter in Kabul.
Das Interview führte Armin Köhli
Sie sind zurzeit in Pakistan. Kann die Unsma in Afghanistan nicht
mehr arbeiten?
Thomas Ruttig: Bis im Frühling waren wir in sechs Städten präsent. Wir
sind immer noch in Afghanistan, in jenem Teil, in dem die Nordallianz das
Sagen hat. Allerdings ist es zurzeit schwierig, dorthin zu kommen. Die
Büros ausserhalb Kabuls sind im Frühling von den Taliban geschlossen
worden. Unser Büro in Kabul ist seit dem 11. September aus
Sicherheitsgründen nicht mehr besetzt. Das Kabuler Büro diente dazu, mit
den Taliban im Gespräch zu bleiben, zu ihnen Kanäle offen zu halten. Die
einzige Möglichkeit, noch mit den Taliban zu reden, ist heute über ihre
Vertretung in Pakistan. Der Botschafter hier in Islamabad ist sehr aktiv.
Woran arbeitet die Uno konkret?
Einerseits gibt es die humanitären Uno-Agenturen. Die versuchen
weiterhin, ihre Programme in Afghanistan am Laufen zu halten. Doch das
wird von Tag zu Tag schwieriger. Das Welternährungsprogramm hat noch
Konvois hineingeschickt und verfügt auch noch über Vorräte, um die
Bevölkerung teilweise zu versorgen. Aber Konvois zu schicken, ist
schwieriger geworden. Die Impfprogramme können weitergeführt werden
dank den lokalen Mitarbeitern. Es gibt noch Kontakt zu ihnen, über
Taliban-Stellen. Die Taliban haben ja auch ein Interesse daran, dass
solche Programme weitergehen.
Ich und meine Kollegen hier sind zuständig für die politische Tätigkeit der
Uno. Wir müssen uns überlegen, wie es weitergeht mit Afghanistan. Wie
kann Afghanistan wieder zu einer stabilen Regierung kommen, die von
allen anerkannt ist, von der eigenen Bevölkerung vor allen Dingen? Wir
arbeiten an Szenarien, konsultieren alle möglichen Beteiligten. Das
Problem des Terrorismus ist nur ein Teil der afghanischen Probleme, wenn
es auch zurzeit übermächtig erscheint. Aber dass Afghanistan zum
Zufluchtsort für Terroristen werden konnte, liegt daran, dass das Land in 22
Jahren Konflikt zerstört worden ist. Es muss zu einer umfassenden
politischen Lösung kommen, die sozial und wirtschaftlich langfristig durch
einen Wiederaufbauplan abgesichert wird. Deshalb ist die Schaffung einer
legitimen Regierung so wichtig, denn nach den Kriterien der Geberländer
kann mit einem Wiederaufbauplan nur einer völkerrechtlich anerkannten
Regierung geholfen werden. Humanitäre Hilfe ist ja nur ein Instrument in
akuten Krisensituationen.
Sie übernehmen die Rolle, die Ihnen US-Präsident George Bush
zugedacht hat: das «Nation Building».
Noch nicht. Wir denken darüber natürlich nach und bereiten uns darauf vor.
Aber die Uno braucht dafür ein Mandat des Sicherheitsrates oder der
Generalversammlung. Das haben wir nicht. Erst wenn wir ein Mandat
haben, können wir entsprechend handeln. Das müssen Regierungen den
völkerrechtlichen Regeln entsprechend vorschlagen.
Wir können nicht bestimmen, wie die afghanische Regierung aussehen
soll. Das liegt vor allem an den Afghanen. Unsere Rolle ist, dabei zu
helfen, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Afghanen zum ersten
Mal seit 1973 wieder zu einer legitimen Regierung kommen. Dass sie ihren
Willen frei ausdrücken können.
Sie arbeiten also an einem Afghanistan nach den Taliban.
Früher oder später wird es ein Afghanistan nach den Taliban geben. Nichts
dauert ewig.
Letzte Woche waren Sie in Rom, beim früheren afghanischen
König Zahir Schah.
Bei seinen Leuten, ja. Wir warten aktiv auf ein neues Mandat, wir sitzen
nicht einfach rum. Unser bisheriges Mandat, eine friedliche Regelung für
Afghanistan anzustreben, hat sich ja nicht geändert. Nur die
Rahmenbedingungen sind anders. Wir mussten erst mal erheblich
umdenken. Aber es gibt auch einige Koordinaten, die sich nicht geändert
haben. Alle, die ein friedliches Afghanistan wollen, können mit unserer
Unterstützung rechnen.
Wir sprechen mit vielen Regierungen, die sich für eine politische Lösung
einsetzen. Es liegen ja durchaus Kriterien vor, wie eine afghanische
Regierung aussehen soll. Die können auch auf den Tisch gebracht werden,
gerade von Europa aus. Das hört sich vielleicht sehr allgemein an, aber
man kann sagen, dass eine künftige Regierung auf pluralistischem Wege
zustande kommen muss, dass es «good governance»
(verantwortungsbewusste Regierungsführung) und «accountability»
(Rechenschaft darüber) geben muss. Sie muss die Menschen und
Minderheitenrechte achten und ihre gute Nachbarschaft mit allen
Nachbarstaaten vertraglich regeln. Afghanistan muss aus der Situation
herauskommen, Zentrum eines lange unterschätzten und vernachlässigten
regionalen Konfliktes zu sein.
Unterstützen Sie eine «loya jirga», eine Art Stammesrat?
Das halte ich für vernünftig, ja. Als Teil eines Prozesses. Dieser Prozess
muss international beobachtet werden, damit das so demokratisch wie
möglich vonstatten geht. Damit nicht die gleiche Situation eintritt wie
beispielsweise 1992, als die Regierung Nadschibullah fiel, die
Mudschaheddin die Macht übernahmen und es Streit gab, wer denn
eigentlich der legitime Regierungschef ist. Bis diese Konflikte zu
Zuständen ausarteten, die dann die Taliban auf den Plan gerufen haben.
Wenn eine Regierung nicht von einer Mehrheit der Afghanen als legitim
angesehen wird, dann gibt es immer jemanden, der sie herausfordert.
Nach dem Plan, den der König vorgelegt hat, soll es erst mal eine
Dringlichkeits-«loya jirga» geben. Die soll einen Interimsmechanismus in
die Wege leiten. In dieser gedachten Interimszeit – wir reden ja nur über
Ideen – muss zum Beispiel eine neue Verfassung geschaffen werden.
Alles muss später von einer regulären «loya jirga» abgesegnet werden.
Dann liegt es an den Afghanen, wie sie sich entscheiden. Ob ihnen eine
«loya jirga» genügt, oder ob sie auch Wahlen haben möchten. Das halte
ich nicht für ausgeschlossen. Viele Afghanen haben mir gesagt, dass das
Verlangen nach Wahlen nach westlichem Muster besteht. Es wären ja
auch nicht die ersten Wahlen in Afghanistan. Zwar wurden sie in den
Sechzigerjahren nicht auf Mehrparteienbasis abgehalten, aber es
existierten – nicht legale – Parteien, die jeder kannte und die ihre
Kandidaten aufstellten. In den ländlichen Gebieten sieht das etwas anders
aus, aber auch dort ist in den 22 Jahren des Konfliktes eine Politisierung
eingetreten. Die Leute wissen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Welche
Persönlichkeiten in Frage kommen und welche eben nicht. 1964 entstand
die letzte legitime Verfassung. Später, nach dem Umsturz, in der
Regierungszeit der Demokratischen Volkspartei Afghanistans und unter
den sowjetischen Truppen, gab es natürlich auch Verfassungen. Aber die
demokratischste galt noch unter dem König.
Als demokratisch lassen sich die damaligen Zustände aber nicht
gerade beschreiben.
Na ja, Afghanistan war zumindest auf einem demokratischen Weg. Für die
Verhältnisse in den Ländern dieser Region war das schon gar nicht so
schlecht. Tatsächlich lagen verschiedene politische Kräfte miteinander im
Wettstreit. Diese Kräfte waren in der Bevölkerung bekannt, und das wirkt
bis heute nach. Heute spielen Söhne von Persönlichkeiten, die in jener Zeit
aktiv waren, eine Rolle.
Die leben noch in Afghanistan?
Zum Teil schon. Das ist einer der Sätze, die gerne über Afghanistan
geschrieben werden, die aber dadurch auch nicht richtiger werden: dass
die afghanische Intelligenz das Land verlassen habe. Es gibt schon einige
Leute, die in der Lage und bereit wären, politisch aktiv zu werden, wenn es
die äusseren Zustände denn zulassen.
Sprechen Sie auch mit afghanischen Frauen?
Mit einer – nicht allzu grossen – Zahl von Frauenorganisationen stehen wir
in Kontakt. Die «Königsleute» in Rom denken daran, an einer «loya jirga»
auch Frauen zu beteiligen. Man kann nicht einfach westliche Massstäbe
anlegen; Afghanistan ist eine patriarchalische Gesellschaft. In den
gebildeten Schichten jedenfalls war die Selbstbestimmung der Frauen
früher recht weit fortgeschritten.
Hierzulande spricht man oft von einem «gemässigten» Flügel der
Taliban. Gibt es solche Fraktionen innerhalb der
Taliban-Bewegung?
Ich rede lieber von einem pragmatischeren und einem weniger
pragmatischen Flügel. Aber das ist nicht die einzige Unterscheidung
innerhalb der Taliban. Diese Bewegung ist heterogener, als man sich das
von aussen vorstellt. Ich würde aber weniger von Flügeln als von
Gruppierungen unterschiedlicher regionaler Herkunft sprechen. Das
manifestiert sich nicht so klar politisch oder ideologisch. Aber wichtig ist,
dass es eine ganze Reihe nationalistischer oder patriotischer Afghanen
innerhalb der Taliban gibt. Denen ist es ein Dorn im Auge, welche Rolle
nichtafghanische Elemente in ihrem Land spielen.
Aus: WoZ, Nr. 42, 18. Oktober 2001
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