Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Rühe: Der Krieg in Afghanistan ist ein "Desaster"

Kritische Stimmen mehren sich / Vor der Wahl regiert das Chaos / Präsidentenpalast unter Granatbeschuss

Je näher die Präsidentenwahl in Afghanistan kommt, desto mehr nehmen die Anschläge, Attentate und Gefechte zwischen Besatzern und Aufständischen zu. In der politischen Klasse überwiegen Durchhalteparolen. Man werde sich auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte am Hindukusch einnisten. Im Folgenden dokumentieren wir mehrere Artikel und Kommentare.



Durchhalteparolen für Truppen in Afghanistan

Verteidigungsminister Jung weist immer stärkere Forderung nach Abzug der Bundeswehr zurück *

Wenige Tage vor der Präsidentenwahl in Afghanistan gibt es in Deutschland eine neue Debatte um einen Rückzug der Bundeswehr aus dem Land.

Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) wies am Montag (17. August) Forderungen nach einem schnellen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan zurück. Die deutschen Soldaten müssten sicherlich noch »fünf bis zehn Jahre« in dem Land bleiben, sagte Jung der »Bild«- Zeitung. Der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) hatte zuvor einen Abzug der Bundeswehr in zwei Jahren gefordert. Ziel des Einsatzes am Hindukusch sei es, Afghanistan in die Lage zu versetzen, selbst für seine Sicherheit zu sorgen, sagte Jung. »Dies wird sicherlich noch einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren in Anspruch nehmen.«

Die LINKE kritisierte Jungs Äußerungen scharf. Der verteidigungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Paul Schäfer sprach von »immer hohler klingenden Durchhalteparolen«. Nur Gewaltverzicht eröffne einen Ausweg aus der afghanischen Sackgasse. Der Abzug der Bundeswehr sei ohne Alternative.

Rühe hatte den internationalen Militäreinsatz in Afghanistan als »Desaster« bezeichnet. »Wir sollten uns dort in den kommenden zwei Jahren mit voller Kraft engagieren und dann den Abzug einleiten«, sagte er dem »Spiegel«.

Unterdessen forderte auch der frühere Leiter des Planungsstabs der Bundeswehr, Ulrich Weisser, ein Ende des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan bis spätestens 2011. Den Deutschen dürfe nicht die Aussicht präsentiert werden, »noch weitere zehn Jahre Krieg zu führen, der in einem Land, das von Drogenkartellen beherrscht und von Korruption zerfressen wird, nicht zu gewinnen ist«, schrieb Weisser in einem Beitrag für die »Frankfurter Rundschau«. Die Politik habe bislang nicht überzeugend dargelegt, warum deutsche Soldaten überhaupt in Afghanistan eingesetzt sind. »Der Satz, dass Deutschland auch am Hindukusch verteidigt wird, reicht nicht aus«, erklärte Weisser.

Auch der frühere UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs, kritisierte die Afghanistan- Politik der Bundesregierung. Der Krieg sei unter dem »klassischen Gesichtspunkt geführt worden, den Gegner zu vernichten, nicht aber, mit allen Mitteln die Zivilbevölkerung zu schützen«, sagte Koenigs der »Berliner Zeitung«. Der Grünen-Politiker forderte einen stärkeren zivilen Einsatz in Afghanistan, »viel mehr Polizeiaufbau, viel mehr Unterstützung der demokratischen Kräfte und Verhandlungen mit den Taliban«.

Regierungssprecher Ulrich Wilhelm lehnt indes einen raschen Abzug der Bundeswehr ab. Der Einsatz werde zwar nicht »ohne Not« ausgedehnt, andererseits dürften die internationalen Anstrengungen nicht dadurch entwertet werden, »dass wir zu früh aus dem Land herausgehen und einen Rückschlag riskieren«, sagte er am Montag in Berlin.

Insgesamt sind im Norden Afghanistans rund 3900 deutsche Soldaten im Einsatz. In den vergangenen Monaten nahmen die Angriffe auf die deutschen Truppen zu. Für Donnerstag sind 17 Millionen Stimmberechtigte in Afghanistan aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Die radikalislamischen Taliban haben zum Boykott der Wahl aufgerufen.

Schon 204 Briten am Hindukusch gefallen

Die Zahl der seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes 2001 getöteten Briten ist auf 204 gestiegen. Am Sonntag waren drei britische Soldaten getötet worden, als ihre Patrouille in der südafghanischen Provinz Helmand von Aufständischen angegriffen wurde. Premierminister Gordon Brown sagte, auch »in Zeiten der Trauer« werde die Regierung an der »Entschlossenheit für ein stabiles Afghanistan festhalten«, um »Großbritannien und den Rest der Welt sicherer zu machen«.

* Aus: Neues Deutschland, 18. August 2009


Urnengang wird zum Gewalt-Marsch

Vor den Wahlen eskaliert in Afghanistan der Terror / Obama: Langer Kampf gegen Taliban **

Kurz vor den Wahlen in Afghanistan nimmt die Gewalt weiter zu. Im Norden wurden erneut deutsche Soldaten der NATO-Truppe ISAF angegriffen.

Bei einem Selbstmordanschlag in Kabul starben am Dienstag (18. Aug.) mindestens zehn Menschen und mehr als 50 weitere wurden verletzt, nach Angaben der NATO-Truppe ISAF waren auch ausländische Soldaten unter den Opfern. Zuvor hatten radikal-islamische Taliban, die zum Boykott der Wahl aufrufen, Raketen auf die Hauptstadt abgefeuert und unter anderem den Präsidentenpalast getroffen.

Der Attentäter sprengte sich nach Polizeiangaben auf einer belebten Hauptstraße im Osten der Hauptstadt in die Luft. Der Anschlag, zu dem sich die Taliban bekannten, richtete sich gegen einen Konvoi der internationalen Truppen, wie ein Polizeivertreter sagte. Da die Bombe in der Nähe eines Basars hochging, seien zahlreiche Zivilisten unter den Opfern. Nach UN-Angaben wurden auch zwei Mitarbeiter der Vereinten Nationen getötet, ein weiterer erlitt Verletzungen.

Nach Angaben von Sicherheitsvertretern waren zuvor zwei bis drei Raketen auf Kabul abgefeuert worden. Ein Geschoss schlug am Rande des Präsidentenpalastes ein.

Im Norden Afghanistans wurden am Dienstag erneut deutsche Soldaten der NATO-Truppe ISAF angegriffen. Wie das Einsatzführungskommando in Potsdam mitteilte, wurden gegen 6.40 Uhr Ortszeit etwa sechs Kilometer südwestlich des Feldlagers in Kundus mehrere Angehörige des Regionalen Wiederaufbauteams mit Handfeuerwaffen und Panzerabwehrwaffen beschossen. Die deutschen Soldaten blieben demnach unverletzt und erwiderten das Feuer. Über Opfer auf gegnerischer Seite lagen zunächst keine Informationen vor. Ein beschädigter Transportpanzer vom Typ Fuchs sei in das Feldlager zurückgebracht worden.

Nach Einschätzung der ISAF sind die Taliban so stark wie nie seit dem Sturz ihres Regimes vor knapp acht Jahren. »Die Lage hier ist ernst«, sagte ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal in einem Gespräch mit deutschsprachigen Medien am Dienstag in Kabul. »Der Aufstand ist gewachsen.« Zugleich hätten zwar auch die Fähigkeiten der afghanischen Regierung zugenommen. »Aber wir haben hier eine echte Herausforderung für die Souveränität und das Volk Afghanistans.« Trotzdem betonte der US-General: »Ich denke nicht, dass wir diesen Wettbewerb an den Aufstand verlieren werden.«

Die afghanische Regierung forderte die einheimischen und internationalen Medien auf, am Tag der Präsidentschaftswahl nicht über gewaltsame Zwischenfälle im Land zu berichten. Zwischen 6 und 20 Uhr am Donnerstag solle die Aussendung von Berichten über jegliche gewaltsamen Zwischenfälle unterlassen werden, teilte das Außenministerium am Dienstag mit. Einen entsprechenden Beschluss habe der Nationale Sicherheitsrat gefasst, um eine möglichst breite Teilnahme der Afghanen an der Wahl zu sichern und Terroranschläge zu vermeiden. Ein Sprecher des Außenministeriums sagte, es gebe keine Konsequenzen für Journalisten, die sich nicht an die Aufforderung hielten. Es sei lediglich ihre »ethische Verantwortung«, dem Folge zu leisten.

US-Präsident Barack Obama schwor sein Land derweil auf einen langen Kampf gegen Taliban und andere Rebellen in Afghanistan ein. »Wir werden sie nicht über Nacht besiegen«, sagte Obama vor Kriegsveteranen im US-Staat Arizona. Zugleich verteidigte er den Einsatz am Hindukusch als »grundlegend für den Schutz des amerikanischen Volkes«.

** Aus: Neues Deutschland, 19. August 2009


Mörsergranaten auf den Präsidentenpalast

Erneut Angriffe auf Kabul. NATO will am Wahltag in Afghanistan keine Militäroffensive starten ***

Die afghanischen Wahlen am morgigen Donnerstag finden unter Kriegsbedingungen statt. Etwa 175 000 afghanische Sicherheitskräfte sind im Einsatz. Zusätzlich sind rund 100000 Besatzungssoldaten im Land, die am Wahltag aber eher im Hintergrund bleiben wollen, um den Eindruck einer Beeinflussung zu vermeiden.

Am Dienstag (18. Aug.) kam es in der Hauptstadt Kabul erneut zu Angriffen. Unter anderem schlugen Mörsergranaten in ummittelbarer Nähe des Präsidentenpalastes ein. Der stellvertretende Sprecher von Amtsinhaber Hamid Karsai, Hamid Elmi, erklärte, weder der Staatschef noch Mitarbeiter seien verletzt worden. Bei einem Attentat am Stadtrand von Kabul wurden mindestens sieben Menschen getötet und etwa 50 verletzt, wie die Behörden mitteilten. Unter den Toten befinden sich den Angaben zufolge möglicherweise auch Besatzungssoldaten. Ein Taliban-Sprecher bekannte sich zu diesem Anschlag auf der Straße von Kabul zum US-Stützpunkt Bagram. Erst am Samstag kostete ein Selbstmordattentat vor dem NATO-Hauptquartier in Kabul sieben Zivilpersonen das Leben, fast 100 Menschen wurden verletzt.

Die NATO-geführte Besatzertruppe ISAF kündigte unterdessen an, während der Wahl auf »Militäroffensiven zu verzichten«. Es solle lediglich »Aktionen« geben, die zum Schutz der Bevölkerung für nötig erachtet würden, erklärte das Militärbündnis am Dienstag. Eine ähnliche Anweisung hatte zuvor Präsident Hamid Karsai an die afghanischen Streitkräfte ausgegeben.

In der südlichen Provinz Urusgan griff ein Selbstmordattentäter am Dienstag einen Stützpunkt der einheimischen Militärs an und riß nach Polizeiangaben drei afghanische Soldaten und zwei Passanten mit in den Tod. Im Osten des Landes wurden bei einem weiteren Anschlag zwei US-Soldaten getötet. Im afghanischen Norden wurden erneut deutsche Soldaten mit Handfeuerwaffen und Panzerabwehr#waffen beschossen. Die deutschen Besatzer blieben unverletzt. Über Opfer auf gegnerischer Seite lagen zunächst keine Informationen vor. (AFP/AP/jW)

*** Aus: junge Welt, 19. August 2009


Wahl im Krieg

Von Olaf Standke ****

Zum »Tag des Friedens« hat die Regierung in Kabul den Donnerstag erklärt. Doch vor der Präsidentenwahl in Afghanistan wird die Lage im Lande immer explosiver. Gestern zerfetzte eine Bombe in der Hauptstadt erneut mindestens zehn Menschen. Das Votum über den nächsten Staatschef ist eine Wahl im Schatten allgegenwärtigen Terrors. Von der politischen Aufbruchstimmung, die bei der ersten Präsidentenwahl nach Jahrzehnten des Krieges vor fünf Jahren durchaus herrschte, ist nichts geblieben. Die Regierung hat sich als unfähig erwiesen und Präsident Karsai versucht, sich den erneuten Wahlerfolg durch Abkommen mit Warlords und Drogenbaronen zu erkaufen. Derweil ist die soziale Situation nicht weniger angespannt als die Sicherheitslage. Die Zahl der Anschläge in diesem Jahr ist schon jetzt die höchste seit dem Taliban-Sturz 2001.

Die von den USA geführte Besatzung des Landes ist ein Fiasko. Doch obwohl es das NATO-Bündnis nicht schafft, das Land militärisch zu befrieden, und alle bisherigen Truppenverstärkungen den Widerstand nur noch angestachelt haben, will man die Zahl der Soldaten weiter erhöhen. USA-Präsident Obama hat im Vorfeld der Wahlen die Entsendung von 21 000 zusätzlichen Militärs angeordnet, gerade noch einmal einen langen Kampf gegen die Taliban angekündigt und seine Strategie verteidigt - als notwendigen Krieg im Interesse der Sicherheit des »amerikanischen Volkes«. Vom afghanischen war keine Rede.

**** Aus: Neues Deutschland, 19. August 2009 (Kommentar)


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zurück zum Dossier "Bundeswehr raus aus Afghanistan!"

Zur Bundeswehr-Seite

Zurück zur Homepage