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Wenn "ein paar Rupien" die Wahl entscheiden

In Afghanistan wird demnächst wieder gewählt, doch der Abstimmung wird es erheblich an Glaubwürdigkeit mangeln

Von Thomas Ruttig, Tirinkot, Kabul, Berlin *

Bei den Vereinten Nationen hört man oft den Satz: Die zweiten Wahlen sind immer die schwierigsten in Ländern, die sich im Übergang vom Konflikt zu Stabilität befinden. Afghanistan bestätigt diese Erkenntnis eindrücklich. Am 20. August wird in Afghanistan zum zweiten Mal in der Geschichte nach 2004 ein Staatsoberhaupt gewählt. Aber es gibt erhebliche Bedenken, dass die Situation im Lande keine auch nur annähernd akzeptablen Wahlen zulässt und die schwachen politischen Institutionen nicht in der Lage sind, ein legitimes Ergebnis zu produzieren.

Erstens ist da die prekäre Sicherheitslage. Die Taliban und andere Aufständische operieren faktisch landesweit. Ihr Chef Mullah Muhammad Omar warnte die Bevölkerung bereits Ende vergangenen Jahres, nicht an den »betrügerischen Wahlen« teilzunehmen, da »die Auswahl in Washington getroffen« werde. Dies dürfte viele Wähler davon abhalten, den gefährlichen Gang ins nächste Wahllokal zu wagen.

Der Mangel an Sicherheit wird aber auch dazu führen, dass sich kaum ausländische Wahlbeobachter ins Land wagen werden. Ohne internationale Präsenz aber werden es afghanische Beobachter schwer haben. Sie werden unter erheblichem Druck der Taliban und bewaffneter örtlicher Machthaber stehen, Manipulationen und Fälschungen zu übersehen.

Zudem gibt es erhebliche »technische Probleme«. Dahinter verbergen sich aber teilweise politische Erwägungen. Anders als im Wahlzyklus 2004/2005 – zunächst wurden damals der Präsident, dann das Parlament und die Provinzräte gewählt; die Distriktratswahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben und sollen 2010 nachgeholt werden – hat die Afghanistan-Mission der UNO den Sicherheitsrat diesmal nur um ein unterstützendes Mandat gebeten. Das heißt: Verantwortlich für den gesamten Ablauf von der Wählerregistrierung bis zur Bekanntgabe des amtlichen Endergebnisses ist die Unabhängige Wahlkommission (UWK). Dieser aber fehlen die Mittel und die Strukturen, um – wie es heißt – »universelle, faire und transparente« Wahlen durchführen zu können. In vielen Provinzen sind ihre Strukturen zerfallen.

Wählerregistrierung in Tirinkot

Im südafghanischen Tirinkot berichtet Obaidullah Osmani, Chef des örtlichen UWK-Büros, von Plünderungen. Die Dorfarmut hätte sämtliche Möbel weggeschleppt. Mit einem neuen Computer auf einem wackligen Tisch, einem tuckernden Generator für den Strom und einem Kanonenofen, unterstützt von nur vier Helfern, versucht er, der 100 000 Neuwähler Herr zu werden, deren Formulare sich auf dem Fußboden stapeln. Obwohl die Einschreibfrist längst abgelaufen ist, warten draußen auf der Straße noch immer Dutzende darauf, ihre Wählerkarten und einen Flecken unabwaschbarer Tinte auf den Zeigefinger zu bekommen.

Offenbar sind aber nicht alle aus demokratischem Antrieb da. Einer der Wartenden erklärt ungerührt, er werde denjenigen wählen, der ihm »ein paar Rupien« dafür gebe.

Zu dieser Desillusionierung, die weite Teile der Bevölkerung erfasst hat, trugen die Manipulationen des bisherigen Demokratisierungsprozesses sowie der fehlende politische Wille des Westens bei, die unter UN-Ägide festgeschriebenen Rahmenbedingungen für faire Wahlen auch tatsächlich zu schaffen. Die Mängelliste reicht vom Ausbleiben der Entwaffnung von Bürgerkriegsmilizen bis zur offensichtlichen Bevorteilung Hamid Karsais bei den Wahlen 2004.

Aber nicht alle Probleme sind externer Natur. Karsai selbst hat immer wieder die gewählten Institutionen ignoriert und damit gegen sich aufgebracht. Sein Bestreben, bis zu den verschobenen Wahlen im Amt zu bleiben, löste Anfang des Jahres sogar eine Verfassungskrise aus. Die Legislaturperiode läuft schon am 21. Mai aus, die Neuwahl hätte mindestens einen Monat vorher stattfinden müssen. Doch wegen der technischen und Wetterprobleme setzte die Wahlkommission den Termin erst auf den 30. August an. Die Verfassung sieht für einen solchen Fall keine Übergangslösung vor. Die Opposition lief gegen Karsais Alleingangsversuch Sturm. Ihre stärkste Kraft, die früheren Mudschahedin der Nationalen Front (NF), verlangen die Einsetzung einer Übergangsregierung. Für den Fall, dass Karsai »auch nur einen Tag länger als vorgesehen« Präsident bleibe, kündigten sie eine »orange Revolution« nach ukrainischem Vorbild an. Die UNO nannte diese Bedenken »nicht unbegründet«.

Welches Wahlergebnis unter diesen Umständen auch herauskommt, für Verlierer wird es relativ leicht anzufechten sein. Damit könnte der Wahlausgang eher weiter destabilisierend wirken statt den Übergangsprozess in Afghanistan voranzubringen. »Die Öffentlichkeit hat das Recht, unter diesen Umständen dem Wahlprozess zu misstrauen und ihn zu ignorieren«, resümiert die oppositionsnahe Wochenzeitung »Haftanama-ye Kabul«.

Der Amtsinhaber und seine Brüder

Der faktisch seit Ende 2001 amtierende, zunächst ernannte, dann gewählte Präsident Hamid Karsai weiß, was die Stunde geschlagen hat. Vor fünf Jahren war er noch deutlicher Wahlsieger, inzwischen haben grassierende Korruption und vor allem die katastrophale Sicherheitslage sein Ansehen in der Bevölkerung jäh abstürzen lassen. Ihm wird vorgeworfen, dass er seine Brüder nicht an die Kandare nehme: Ahmad Wali Karsai, der als Provinzratschef die wichtige Südprovinz Kandahar wie seinen Privatbesitz regiert, werden immer wieder Verwicklungen in den Drogenhandel vorgeworfen; der älterer Bruder Mahmud hat sich mittels umstrittener Privatisierungen vom Besitzer einer kleinen Restaurantkette in den USA zu einem der reichsten Geschäftsleute des Landes entwickelt. In Afghanistan trifft man kaum noch jemanden, der Karsai noch einmal seine Stimme geben will.

Auch die neue Regierung in Washington sparte zunächst nicht mit öffentlicher Kritik an ihm, ganz im Gegensatz zu ihren republikanischen Vorgängern. Karsai musste befürchten, fallen gelassen zu werden. Aber angesichts des Mangels an überzeugenden personellen Alternativen hat sich das mittlerweile etwas gelegt. »Keiner kann sicher sein, ob sich nicht jemand anders als zehnmal schlimmer erweist«, zitierte der Londoner »Guardian« einen anonymen Diplomaten in Kabul.

Das ist auch kein Wunder. Das bisherige Scheitern liegt weniger in Personen – auch nicht der Karsais – begründet als im politischen System. Das Land ist überzentralisiert und es gibt keine ausgleichenden Mechanismen. Der Präsident ist faktisch ein Alleinentscheider, das Kabinett eine Zustimmungsmaschine. Dieses System spiegelt sich auf Provinzebene. Das zersplitterte, parteienlose Parlament kann leicht manipuliert werden. Um Afghanistans politisches System wieder flott zu machen, wären also eine Dezentralisierung und mehr Mitsprache für die subnationalen Instanzen sowie die gewählten Volksvertreter angebracht. Ein parlamentarisches System, möglicherweise mit einem Ministerpräsidenten, der vom Parlament bestätigt wird, könnte ein Ausweg sein. Aber eine solche Lösung dürfte nicht von Washington angeordnet werden – wie jüngste Medienberichte es nahelegen –, sondern müsste Ergebnis einer nationalen Konsultation sein.

Schon über 20 Herausforderer

Über 20 Personen haben bereits erklärt, gegen Karsai antreten zu wollen. Die meisten sind populistische Einzelgänger oder unbekannte Exilanten. Auch die ehemalige Frauenministerin Massuda Jalal ist wieder dabei, die 2004 ganze 1,1 Prozent der Stimmen gewann.

Seit bekannt ist, dass die Anmeldefrist am 25. April beginnt, wagen sich auch die Schwergewichte aus den Kulissen. Zwei frühere Finanzminister Karsais sind darunter: Ashraf Ghani, der das Amt von 2002 bis 2004 ausübte, und Anwar-ul-Haq Ahady, der erst im Dezember zurücktrat. Ghani vom paschtunischen Nomadenstamm der Ahmadzai ist wirtschaftlich ein Neoliberaler. Der langjährige Weltbankberater brachte die erfolgreiche Währungsreform 2002 und die Privatisierung des vor allem als Arbeitgeber immer noch bedeutenden afghanischen Staatssektors auf die Schiene. An Selbstbewusstsein mangelt es dem 59-Jährigen nicht, das beweisen seine allerdings gescheiterten Kandidaturen für die Chefposten von UNO und Weltbank 2006 und 2007. Ghani ist hochintelligent und -effizient, aber auch als aufbrausend bekannt. Ein Mannschaftstyp ist er nicht. Seit Ende vorigen Jahres greift er Karsai in afghanischen und internationalen Medien immer wieder scharf an: Afghanistan befinde sich in einer »politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise«, die Regierung gehöre zu den fünf korruptesten der Welt und Karsai sei dafür mitverantwortlich.

Ahady kandidiert für seine Partei Afghan Millat (Afghanische Nation), im Selbstverständnis sozialdemokratisch, die aber als stark paschtunisch-nationalistisch und deshalb unter Nichtpaschtunen als unwählbar gilt.

Nach langem Zögern gab vor wenigen Tagen auch der ehemalige Innenminister Ahmad Ali Jalali seine Kandidatur bekannt. Der 68-Jährige aus der Provinz Ghazni arbeitete fast 20 Jahre lang beim Radiosender »Voice of America« und lehrte zuletzt an der Pentagon-nahen National Defence University. Bereits weit im vorigen Jahr begann er, landesweit Unterstützerstrukturen aufzubauen. Auch er trennte sich im September 2005 im Zorn von Karsai, den er beschuldigte, Reformvorschläge blockiert zu haben. Unter den Afghanen ‚auf der Straße macht das Jalali zum meistgenannten Namen für eine aussichtsreiche Karsai-Nachfolge. Bei Licht besehen fehlt ihm aber die von vielen Afghanen herbeigesehnte harte Hand. Jahrelang sah er tatenlos zu, wie hohe Beamte in seinem Hause schamlos Ämter verschacherten.

Auch der Gouverneur der ostafghanischen Provinz Nangarhar, Gul Agha Sherzai, will antreten. Der Kandahar-Paschtune will vor allem in Südafghanistan mobilisieren. Das macht ihn zum direkten Konkurrenten Karsais. Zudem glauben viele Afghanen, er sei der eigentliche Favorit der USA. Im März vergangenen Jahres wurde er von Radio Azadi (Freiheit), dem afghanischen Ableger des gleichnamigen USA-Senders, von den Hörern zur »Persönlichkeit des Jahres« gewählt. Dann traf ihn der spätere USA-Präsident Barack Obama während einer ersten Afghanistan-Reise im Herbst 2008, noch bevor er Karsai seine Aufwartung machte. Schließlich sorgt sogar Obamas Vorname für Verwirrung: Sherzais Stamm heißt Barakzai, allerdings ohne »c«. Eine Hürde könnte sich allerdings als zu hoch für ihn erweisen: Sherzai besitzt keinen Hochschulabschluss.

Die oppositionelle Nationale Front (NF) hat bisher noch keinen Kandidaten gekürt. In ihren Reihen herrscht derzeit ein Zweikampf zwischen dem international angesehenen früheren Außenminister Dr. Abdullah Abdullah (mit paschtunischem Vater) und Vizepräsident Ahmad Zia Massoud, Bruder des legendären, am 9. September 2001 von al-Qaida ermordeten Mudschahedinführers Ahmad Shah Massoud. Doch auch Muhammad Yunus Qanuni, der Präsident des Unterhauses, und der frühere Verteidigungsminister »Marschall« Muhammad Qasem Fahim hegen Ambitionen. Das versucht Karsai bereits auszunutzen. Dem Vernehmen nach hat er Fahim – wie schon bei seinem erfolgreichen Erstanlauf 2004 – die Vizepräsidentschaft angetragen. Alle hoffen auf Washingtons Hilfe

Allen Kandidaten ist gemeinsam, dass sie zuvörderst auf ihren Namen bauen, weniger auf ein Programm – sowie auf ihre Beziehungen in die Vereinigten Staaten. Jalali, Ghani und Ahady haben einen US-amerikanischen Zweitpass. Alle hoffen auf die Unterstützung der Obama-Regierung. Doch hinter den Kulissen bastelt ausgerechnet Zalmay Khalilzad, der afghanisch-stämmige frühere Botschafter der Bush-Regierung in Kabul, an einer Team-Kandidatur gegen Karsai. Sein Favorit ist Jalali. Es wäre ein Ironie der Geschichte, wenn nach Bushs Scheitern in Afghanistan dort eine Regierung von republikanischen Gnaden an die Macht käme.

* Aus: Neues Deutschland, 28. März 2009


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