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Ein Parlament voller Bewaffneter

In Afghanistan verzögert sich Bekanntgabe des Wahlergebnisses

Von Jan Heller, Kabul*

Sechs Wochen nach der Wahl zum afghanischen Parlament mehren sich Beschwerden über Manipulationen bei der Abstimmung. Eine Neuauszählung der Stimmen wird von der Wahlkommission aber bislang ausgeschlossen.

Nun hat Junus Kanuni doch noch für einen Paukenschlag gesorgt. Vor wenigen Tagen verlangte der Führer der oppositionellen Nationalen Verständigungsfront (NVF), einer Koalition aus 16 Parteien, auf einer Pressekonferenz in Kabul überraschend die Neuauszählung der Parlamentswahlen vom 18. September. Als Begründung führte er an, dass es »landesweit« zu Fälschungen gekommen sei. Damit wiederholt der frühere Mudschahedin-Führer seinen Coup von der Präsidentschaftswahl im Oktober vergangenen Jahres, als er mit einer Boykottdrohung für Aufregung sorgte, nachdem er mit 16 Prozent weit weniger Stimmen als erwartet erhalten hatte. Andere Kandidaten schlossen sich an, und aus ihrem Zweckbündnis entstand die NVF.

Wie schon 2004, als Kanuni behauptete, Karsai habe ihn durch Wahlbetrug um den Sieg gebracht, reklamiert er auch jetzt wieder den Spitzenplatz für sich. »Ich bin froh, mitteilen zu können, dass die NVF die meisten Sitze im Parlament errungen hat«, erklärte er.

Doch erste unabhängigen Analysen sprechen eine andere Sprache. Zwar kommt die Front nach einer Auszählung europäischer Botschaften auf 48 Abgeordnete (Kanunis Partei Neues Afghanistan hat 22) im 249 Sitze zählenden afghanischen Unterhaus, der Wolusi Dschirga, und ist damit stärkste politische Formation. Aber von einer Mehrheit ist sie weit entfernt. Das erklärt, warum Kanuni erst jetzt aus der Deckung kommt und auf einen Zug aufspringt, den andere für ihn in Gang gesetzt haben.

Seit Tagen protestieren Anhänger geschlagener Kandidaten in mehreren Provinzen gegen den Wahlbetrug. In Kundus – wo das deutsche ISAF-Kontingent stationiert ist – sowie in Jalalabad blockierten sie tagelang die Zählzentren. Kabuler Kandidaten belagerten das Büro der teilweise international besetzten Wahlbeschwerde-Kommission, die nach einem internen EU-Bericht mehr als ein Fünftel der fast 5000 eingegangenen Proteste verschlampt hat. Abordnungen der Protestierenden geben sich in UNO-Büros und Botschaften die Klinke in die Hand. Besonders pikant: Abdul Kuddus Kiyam, ein unabhängiger Demokrat aus der westafghanischen Provinz Ghor, beschuldigt ausgerechnet den dortigen Kanuni-Spitzenkandidaten, am Wahltag mit Bewaffneten fünf Wahlbüros besetzt, Beobachter gegnerischer Kandidaten verjagt und die Wahlurnen mit vorbereiteten Wahlzetteln gespickt zu haben. Ähnliches wird aus Helmand, Kandahar, Paktika und Herat von internationalen Beobachtern bestätigt. Die Wahlkommission aus Afghanen und UNOMitarbeitern hat jedoch eine Neuauszählung bisher strikt abgelehnt. Kanunis Vorstoß könnte die für Ende der Woche erwartete Bekanntgabe des Endergebnisses allerdings weiter verzögern.

Trotzdem zeichnet sich bereits ein Bild des künftigen Parlaments ab: politisch wie ethnisch zersplittert, aber dominiert von religiös-konservativen und islamistischen Kräften. Paschtunen und Nicht-Paschtunen werden sich die Waage halten, voraussichtlich 33 Parteien vertreten sein, keine von ihnen mit mehr als 25 und nur acht mit mehr als 10 Sitzen. 19 davon sind nach wie vor bewaffnete fundamentalistische Gruppen, einige mit Karsai verbündet, andere mit der Opposition. Über 80 meist noch aktive Kommandeure – einige von ihnen in Drogengeschäfte verwickelt – werden die gerade montierten Klappsessel im provisorischen Parlamentsgebäude im Westen Kabuls einnehmen und mit mehreren Dutzend zivilen Islamisten, Mullahs und konservativen Stammesführern je nach Bedarf Karsai oder Kanuni unterstützen.

Demokraten und Linke sind deutlich in der Minderheit. Während Ahmad Schah Asar von der Volkspartei von einer »Niederlage für die Demokraten« spricht, sieht Abdul Matin von der Solidaritätspartei etwas Licht am Ende des Tunnels. »Wir haben es nicht geschafft, uns auf gemeinsame Kandidaten zu einigen«, kritisiert er zwar, aber immerhin hat die National- Demokratische Front, für die beide angetreten sind, acht Sitze gewonnen, davon sieben für Frauen. Dazu kommen je ein Dutzend parteilose Demokraten und Vertreter früher prosowjetischer Linksparteien. Sie wollen jetzt zusammen mit Nichtislamisten aus dem Präsidentenlager verhindern, dass ein Islamist zum Parlamentspräsidenten gewählt wird. Der Ausgang dieser Wahl wird anzeigen, ob Afghanistan sich rückwärts in Richtung Fundamentalismus oder weiter hin zu einer Demokratie bewegt.

* Aus: Neues Deutschland, 3. November 2005


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