Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Afghanistan hat keine Wahl mehr

Kommission in Kabul erklärte Amtsinhaber Karsai definitiv zum Sieger / Stichvotum abgesagt *

Nach wochenlangem Chaos wegen Wahlbetrugs hat die umstrittene Wahlkommission den Amtsinhaber Hamid Karsai zum neuen Präsidenten Afghanistans erklärt.

Angesichts des Rückzugs von Ex-Außenminister Abdullah Abdullah sagte die Wahlkommission (IEC) die für kommenden Sonnabend (7. Nov.) geplante Stichwahl ab. Zweieinhalb Monate nach der ersten Wahlrunde am 20. August erklärte IEC-Chef Asisullah Ludin, Karsai habe im ersten Wahlgang mit 49,67 Prozent der Stimmen die Mehrheit erzielt. Da er bei der Stichwahl keinen Gegenkandidaten mehr habe, hätten die IEC-Mitglieder einstimmig beschlossen, ihm den Sieg zuzuerkennen. »Wir erklären Hamid Karsai zum gewählten Präsidenten des Landes.« UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon gratulierte Karsai.

Abdullah hatte von Karsai gefordert, IEC-Chef Ludin wegen des massiven Betrugs in der ersten Runde der Wahl zu entlassen. Als Karsai dies verweigerte, hatte Abdullah am Sonntag (1. Nov.) unter Verweis auf erneut drohende Manipulationen bei der zweiten Runde seine Teilnahme an der Präsidentenwahl abgesagt. Nach dem um gefälschte Stimmen bereinigten Endergebnis der ersten Runde hatte Karsai die absolute Mehrheit knapp verfehlt. Der Amtsinhaber habe dennoch fast 20 Punkte vor Abdullah gelegen, der auf 30,59 Prozent der Stimmen gekommen sein soll.

Beachten Sie auch die Meldungen vom 1. bis 3. November in unserer tagesaktuellen Afghanistan-Chronik



Ban, der am Montag (2. Nov.) zu einem Besuch in Kabul eingetroffen war, begrüßte die IEC-Entscheidung. »Dies ist ein schwieriger Wahlprozess für Afghanistan gewesen und Lektionen müssen gelernt werden«, hieß es in einer Erklärung Bans. »Afghanistan steht nun vor bedeutenden Herausforderungen.« Karsai müsse schnell eine Regierung bilden, die das Vertrauen des afghanischen Volkes und der internationalen Gemeinschaft habe. Ban sagte nach getrennten Treffen mit Karsai und Abdullah, die Wahl in Afghanistan sei eine der schwierigsten gewesen, die die UNO jemals unterstützt hätte.

Als erster westlicher Regierungschef gratulierte der britische Premierminister Gordon Brown Karsai in einem Telefonat. Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle und sein französischer Amtskollege Bernard Kouchner gratulierten. »Wir erwarten, dass sich der afghanische Präsident bemüht, die verschiedenen Lager zusammenzuführen, um Präsident aller Afghanen zu sein«, sagte Westerwelle bei seinem Antrittsbesuch in Paris.

Da Karsai keine absolute Mehrheit hatte, war nach der Verfassung eine Stichwahl notwendig geworden. Der Rückzug eines Kandidaten aus der Stichwahl ist in dem Gesetzestext allerdings nicht vorgesehen. Ludin verwies darauf, dass die Verfassung zwei Kandidaten bei der Stichwahl vorschreibe. Er führte außerdem Sicherheits- und finanzielle Gründe für die Absage der Wahl an.

Unklar blieb zunächst, ob Karsai das Abdullah-Lager an einer künftigen Regierung beteiligen würde.

In Deutschland kritisierte die LINKE scharf die Entscheidung der afghanischen Wahlkommission. »Nun hat sich das Projekt der Demokratisierung Afghanistans unter Gewehrläufen endgültig als Farce entpuppt«, erklärte Inge Höger, abrüstungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. »Die Bundesregierung und die NATO stehen bezüglich ihrer politischen Begründung für den Krieg in Afghanistan nun endgültig vor einem gigantischen Trümmerhaufen. Sie haben mit dem neuen, alten Präsidenten Karsai einen Bündnispartner in Afghanistan installiert, der auch noch den letzten Rest an Legitimität verloren hat.« Das Wahldebakel, so Höger weiter, habe deutlich gezeigt, dass sich eine demokratische Wahl unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung nicht durchführen lässt. NATO und Bundeswehr würden »zu Komplizen eines Wahlbetrügers, wenn sie nun weiter an der Seite Karsais und seiner Armee kämpfen«.

* Aus: Neues Deutschland, 3. November 2009


Kabuler Komödianten

Von Roland Etzel **

Die Sparte Wahlen des Kabuler Polittheaters schließt für dieses Jahr ihre Pforten. Gegeben wurde in der abgelaufenen Saison das Stück »Karsais Wahlverwandtschaften«. Es war durchaus eine Stunde der Komödianten, aber trotz Einsprengseln von Schmierenkomödie bis Groteske am Ende eine Tragödie -- als Einakter geplant und nun auch so zu Ende gebracht.

Der Vorhang fiel und soll nun unten bleiben; jedenfalls wenn es nach dem Regisseur und Hauptdarsteller in Personalunion geht. Denn so ließ es Präsident Hamid Karsai gestern verkünden: Präsident und Wahlkommission sind sich darüber einig, dass der Präsident auch ohne (Stich)-Wahl gewählter Präsident war, ist und bleibt. Ob gewählt oder verzählt, ob Beifall oder nicht.

Doch, einer applaudierte. Der Brite Gordon Brown lobte die Entscheidung frei nach dem Motto: Ist auch alles nur Kulisse, so ist es doch die unsere. Das ist konsequent. Wie schwer tun sich da die Deutschen: Noch eine Stunde vor der Wahlabsage hatte Neu-Außenminister Westerwelle die afghanische Regierung zu einer Wahl »nach Recht und Gesetz« ermahnt. Immerhin erkennt das Publikum: In puncto Afghanistan verweigert sich deutsche Außenpolitik weiter der realen Welt. Und Westerwelle ist wohl sehr geeignet dafür, bedarf es doch künftig noch größerer Kunst an Wirklichkeitsverdrängung, um das deutsche Afghanistan-Theater zu vermitteln.

** Aus: Neues Deutschland, 3. November 2009 (Kommentar)


Wahlzirkus zu Ende

Von Knut Mellenthin ***

Die für den 7.November geplante Stichwahl in Afghanistan findet nicht statt. Hamid Karsai bleibt trotz erwiesener massiver Wahlfälschung und harter Korruptionsvorwürfe Präsident des Landes am Hindukusch. Damit findet eine Farce ihr vorläufiges Ende, für die mindestens 300 Millionen Dollar zusätzlich ins Land gepumpt worden waren. Schon bei der Vorbereitung der Wahl, die nach einer verfassungswidrigen Verschiebung schließlich am 20. August stattfand, wurden Manipulationen bei der Erstellung der Wählerlisten bekannt. In vielen Bezirken, wo die Macht der Regierung nur schwach ist, wurden nicht einmal Wahlbüros eingerichtet. Auch in anderen Gegenden des von NATO-Truppen besetzten Landes ging nach Berichten ausländischer Beobachter kaum jemand zur Abstimmung. Die mit Anhängern Karsais besetzte zentrale Wahlkommission gab die Beteiligung schließlich mit 38,7 Prozent an. Das ist weit weniger als bei der ersten Präsidentenwahl im Oktober 2004, aber vermutlich immer noch geschönt.

Erst einen Monat nach der Stimmabgabe, am 16. September, wurde ein vorläufiges »Endergebnis« bekanntgegeben. Danach hätte Karsai die Wahl mit 54,6 Prozent deutlich vor seinem Hauptkonkurrenten, dem früheren Außenminister Abdullah Abdullah, gewonnen, für den angeblich nur 27,8 Prozent gestimmt hatten. Mit dieser absoluten Mehrheit hätte Karsai sich nicht zur Stichwahl stellen müssen.

Zuvor hatte die Wahlkommission aber schon am 15. September eine Neuauszählung angeordnet, nachdem vor allem die US-Regierung starken Druck ausgeübt hatte. Auch UN-Beobachter hatten von Fälschungen und Betrug gesprochen. Als Ergebnis der Überprüfung wurden am 19. Oktober rund eine Million Stimmen für ungültig erklärt und die Ergebnisse aus über 200 Wahllokalen annulliert. Nach dieser Korrektur, die keineswegs das gesamte Ausmaß der Fälschungen aufdeckte, reduzierte sich Karsais Anteil auf 49,67 Prozent. Das machte eine Stichwahl erforderlich, deren Termin auf den 7.November festgesetzt wurde.

Indessen argumentierte Abdullah nicht ohne Grund, daß ohne umfassende Änderungen an der Organisierung der Wahl auch im zweiten Gang kein faires, einigermaßen unverfälschtes Ergebnis zu erwarten wäre. Er verlangte deshalb unter anderem eine Neubesetzung der zentralen Wahlkommission, insbesondere die Ablösung ihres Vorsitzenden Azizullah Ludin. Nachdem er für seine Forderungen kein Entgegenkommen gefunden hatte, erklärte Abdullah schließlich am Sonntag vor Tausenden Anhängern, die aus ganz Afghanistan in die Hauptstadt Kabul gekommen waren, seinen Rückzug von der Stichwahl. Er verband das mit neuen scharfen Angriffen auf den Präsidenten.

Die erste Reaktion Karsais bestand in der Ankündigung, die Wahl am 7. November werde trotzdem wie geplant stattfinden, nun eben mit ihm als einzigem Kandidaten. Er wurde in dieser Haltung zunächst durch die Wahlkommission unterstützt, deren Vorsitzender behauptete, es gebe überhaupt keinen anderen gesetzlichen Weg als die Durchführung der Abstimmung. Wenige Stunden später jedoch setzte die Kommission am Montag die Wahl ab und erklärte Karsai zum Sieger.

Vorausgegangen war starker Druck aus den USA, der durch einen überraschenden Besuch von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon am Montag in Kabul unterstützt wurde. Im Ergebnis ist Karsai, der den NATO-Regierungen mehrfach mit seiner Kritik an ihrer rücksichtslosen Kriegführung auf die Nerven gegangen war, erheblich geschwächt und wird möglicherweise einer Machtteilung mit Abdullah zustimmen müssen.

*** Aus: junge Welt, 3. November 2009


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zurück zur Homepage