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Afghanistan-Krieg:

Wikileaks veröffentlicht geheime Dokumente

Die Veröffentlichung von über 90 000 brisanten US-Militärdokumenten im Internet wirft ein düsteres Licht auf den Krieg in Afghanistan - zivile Opfer, geheime Todeskommandos, die Verwicklung des pakistanischen Geheimdiensts.

Der Krieg gegen die radikal-islamischen Taliban in Afghanistan fordert mehr zivile Opfer als bislang bekannt. Auch im Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die Sicherheitslage offenkundig schlechter als von der Bundesregierung eingeräumt. US-Militärs gingen über Jahre davon aus, dass Mitarbeiter des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI direkt mit den Taliban kooperierten und so die Anstrengungen des Westens unterminierten. Das geht aus einer Sammlung von mehr als 90 000 überwiegend geheimen Dokumenten der am Hindukusch kämpfenden US-Truppen hervor, die von der Enthüllungs-Website Wikileaks in der Nacht zu Montag (26. Juli) veröffentlicht wurde.

Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" sowie die Zeitungen "New York Times" und "Guardian" aus London analysierten jeweils für sich die gewaltige Datenmenge der US-Streitkräfte. Es sind größtenteils Meldungen der Truppen aus dem Feld, die zusammengefasst und direkt weitergeleitet wurden. Viele Berichte konnten nicht verifiziert werden, doch halten die Militärs viele ihrer Quellen - darunter afghanische Informanten und Sicherheitskräfte - für glaubwürdig.

Laut "Guardian" sind hunderte afghanischer Zivilisten bei bislang nicht bekannten Aktionen der internationalen Truppen ums Leben gekommen. In den Dokumenten sind 144 Zwischenfälle mit 195 zivilen Todesopfern aufgelistet. Im Einsatzgebiet der deutschen Truppen im Norden Afghanistan habe die Zahl der Kampfhandlungen ebenso stark zugenommen wie die Zahl der Anschläge, schreibt der "Spiegel". Auch der Einsatz von Spezialeinheiten der US-Streitkräfte helfe nur bedingt.

Die geheim operierende US-Einheit "Task Force 373" hat demnach den Auftrag, Taliban-Führer gefangen zu nehmen oder zu töten. Seit Sommer 2009 sind laut "Spiegel" 300 Mann der Truppe in Masar-i-Scharif auf dem Gelände des deutschen Feldlagers Camp Marmal stationiert und führen von dort aus gezielte Tötungsaktionen durch. Der "Spiegel" schreibt weiter, dass es in den Dokumenten keine Hinweise auf weitere, bislang nicht bekannte Übergriffe deutscher Soldaten auf die Zivilbevölkerung gebe. Allerdings lasse sich aus den Unterlagen schließen, dass deutsche Truppen unvorbereitet in den Krieg gezogen seien.

Weiter enthalten die Dokumente zahlreiche Hinweise darauf, dass der pakistanische Geheimdienst ISI die Extremisten in Afghanistan unterstützt. Eine direkte Verbindung zum Terrornetzwerk Al-Kaida könne dabei nicht nachgewiesen werden. Aber vor allem in Berichten aus den Jahren 2004 bis 2007 werde deutlich, dass der ISI den Taliban half und Kämpfern in Pakistan Unterschlupf gewährt habe.

Die pakistanische Regierung wies die Vorwürfe zurück. Pakistan, Afghanistan und die USA seien strategische Partner im Kampf gegen Taliban und Al-Kaida, sagte Pakistans Botschafter in Washington, Husain Haqqani, pakistanischen Medien. Daher würden auch Militär und Geheimdienst die Regierungspolitik "effektiv umsetzen".

Die drei Blätter glichen nach eigenen Angaben die aus den Jahren 2004 bis 2009 stammenden Informationen mit den offiziellen Darstellungen der Lage in Afghanistan ab. In den genau 91 713 Dokumenten Unterlagen seien keine Widersprüche zur offiziellen Darstellung festgestellt worden, das US-Militär habe jedoch in Erklärungen Sachverhalte immer wieder "verharmlost", schreibt die "New York Times" in dem am Sonntagabend im Internet veröffentlichten Bericht.

So gebe es in den Unterlagen Hinweise darauf, dass die Taliban mit modernsten Waffen ausgerüstet seien und unter anderem Luftabwehrraketen gegen Hubschrauber der internationalen Truppen einsetzten. Das sei bislang von der NATO und US-Armee nicht offiziell bestätigt worden.

Die Unterlagen waren zunächst der Internetplattform Wikileaks zugespielt worden. Der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, James Jones, reagierte empört. "Die USA verurteilen aufs Schärfste die Veröffentlichung von Geheiminformationen durch Einzelne oder Organisationen, durch die das Leben von Amerikanern und deren Verbündeten gefährdet und die nationale Sicherheit bedroht wird."

Der Gründer der auf Enthüllungsgeschichten spezialisierten Internetseite WikiLeaks, Julian Assange, hat die Veröffentlichung der Dokumente verteidigt. Guter Journalismus sei "von Natur aus" kontrovers, so Assange am Montag. Zugleich begrüßte er die Debatte, die die Veröffentlichung der Dokumente auslöste.

Außenminister Guido Westerwelle hat eine Untersuchung der auf der Enthüllungs-Website Wikileaks veröffentlichten US-Militär-Dokumente zu Afghanistan gefordert. "Das muss jetzt alles natürlich auch ausgewertet werden, was es hier auch möglicherweise an neuen Erkenntnissen gibt", sagte Westerwelle am Montag in Brüssel am Rande eines Treffens der EU-Außenminister. Das Bundesverteidigungsministerium hat die Veröffentlichung von mehr als 90 000 US-Militärdokumenten zum internationalen Afghanistan-Einsatz als "äußerst bemerkenswerten Vorgang" bezeichnet. Dadurch könnte die nationale Sicherheit der USA und der internationalen Truppen beeinträchtigt werden, sagte der stellvertretende Ministeriumssprecher Christian Dienst am Montag in Berlin. Der britische Außenminister William Hague spielte den Bericht dagegen herunter. "Wir verbringen unsere Zeit nicht damit, Enthüllungen anzuschauen, wir setzen die international abgestimmte Strategie fort", sagte Hague in Brüssel. "Ich hoffe, dass solche Veröffentlichungen nicht die Atmosphäre vergiften", fügte der Brite hinzu.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2010


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