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Das große Zittern vor Wikileaks

Enthüllungs-Internetseite veröffentlichte geheime US-Militärdokumente aus Afghanistan

Geheime Todesschwadronen in Afghanistan, die Schlüsselrolle des pakistanischen Geheimdienstes im Krieg am Hindukusch und eine Unzahl neuer Beweise, dass dieser Krieg ein schmutziger ist - darüber sollen geheime US-Militärdokumente Auskunft geben, die der Internetseite Wikileaks zugespielt und von ihr Medien zugänglich gemacht wurden. Das Pentagon kocht vor Wut und beschwört nationale Gefahren.

Der Krieg gegen die Taliban in Afghanistan fordert mehr zivile Opfer als bislang bekannt. Im Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die Sicherheitslage schlechter als von der Bundesregierung eingeräumt. Diese und andere Einschätzungen finden sich in einer Sammlung von mehr als 90 000 überwiegend geheimen Dokumenten der am Hindukusch kämpfenden USA-Truppen, die von der Enthüllungs-Website Wikileaks in der Nacht zu Montag veröffentlicht wurden.

Der Londoner »Guardian«, die »New York Times« und der Hamburger »Spiegel« analysierten jeweils für sich die gewaltige Datenmenge der US-Streitkräfte. Es sind größtenteils Meldungen der Truppen aus dem Feld. Unter anderem sind darin 144 Zwischenfälle mit 195 zivilen Todesopfern aufgelistet.

Lesen kann man nun auch, dass die geheim operierende Einheit »Task Force 373« den Auftrag hat, Taliban-Führer gefangen zu nehmen oder zu töten. Seit Sommer 2009 sind laut »Spiegel« 300 Mann der Truppe in Masar-i-Scharif auf dem Gelände des deutschen Feldlagers Camp Marmal stationiert und führen von dort aus gezielte Tötungsaktionen durch. Der »Spiegel« schreibt weiter, aus den Unterlagen lasse sich schließen, dass deutsche Truppen unvorbereitet in den Krieg gezogen sind.

Weiter enthalten die Dokumente zahlreiche Hinweise darauf, dass der pakistanische Geheimdienst ISI die Taliban in Afghanistan unterstützt. Vor allem in Berichten aus den Jahren 2004 bis 2007 werde deutlich, dass der ISI den Taliban half und Kämpfern in Pakistan Unterschlupf gewährt hat. So gebe es in den Unterlagen Hinweise darauf, dass die Taliban mit modernsten Waffen ausgerüstet sind und unter anderem Luftabwehrraketen gegen Hubschrauber der internationalen Truppen einsetzten. Das sei bislang von den USA nicht bestätigt worden.

Die Unterlagen waren der Internetplattform Wikileaks zugespielt worden. Wikileaks sammelt geheime offizielle Dokumente aus anonymen Quellen, um Missstände öffentlich zu machen. Der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, James Jones, reagierte empört. »Die USA verurteilen aufs Schärfste die Veröffentlichung von Geheiminformationen durch Einzelne oder Organisationen, durch die das Leben von Amerikanern und deren Verbündeten gefährdet und die nationale Sicherheit bedroht wird.« Außenminister Guido Westerwelle hat eine Untersuchung der auf Wikileaks veröffentlichten Militärdokumente zu Afghanistan gefordert. Er sehe sich in seiner Haltung gestärkt, die Lage in Afghanistan nie beschönigt zu haben.

Bei einem neuen Raketenangriff im Süden Afghanistans sind nach offiziellen Angaben 40 bis 45 Zivilisten getötet worden. Ein Sprecher des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai kündigte an, eine Untersuchung solle klären, ob die NATO-Truppen für den Abschuss der Rakete verantwortlich sind.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Juli 2010


Nicht länger geheim

Von Knut Mellenthin **

Über 40 afghanische Zivilisten wurden am vergangenen Freitag getötet, als NATO-Kampfhubschrauber ein Dorf in der Provinz Helmand angriffen. Die Sprecher des Militärpakts reagierten wie üblich: Es gebe »keine Hinweise« auf Opfer unter der Bevölkerung. Die Truppen hätten lediglich »mehrere Kilometer« von dem Dorf entfernt gegen »Aufständische« gekämpft. Indessen liegen schon zahlreiche gegenteilige Berichte von Augenzeugen vor, die Journalisten internationaler Medien in dem Gebiet gesammelt haben.

Wie solche »Kollateralschäden« von der NATO in Afghanistan produziert werden, wird u.a. anhand der etwa 92000 bisher geheimen US-amerikanischen Dokumenten deutlich, die am Wochenende von Wikileaks ins Internet gestellt wurden. Die Gruppe hat sich die Schaffung größerer Transparenz über die Kriegspolitik der USA und ihrer Verbündeten zur Aufgabe gemacht. Erstmals bekannt war Wikileaks im April durch die Veröffentlichung schockierender Videoaufnahmen geworden: Sie zeigten die tödliche Jagd einer US-amerikanischen Hubschrauberbesatzung auf irakische Zivilisten, einschließlich der menschenverachtenden Sprüche der Mordschützen.

Die jetzt zugänglich gemachten Militärdokumente stammen aus den Jahren 2004 bis 2009. Sie enthalten unter anderem Schilderungen des Verlaufs militärischer Aktionen, Berichte über zivile Opfer und über versehentliche Verluste in den eigenen Reihen durch »Friendly fire«, Untersuchungen über die Bewaffnung der Taliban sowie Geheimdienstakten beispielsweise über vermutete Kontakte zwischen pakistanischen Dienststellen und afghanischen Aufständischen.

Wie Wikileaks an diese Zehntausenden geheimer Files gelangte, ist bisher noch unbekannt. Um größtmögliche Publizität für die Informationsschätze zu erreichen, hatte die Gruppe einen ungewöhnlichen, aber äußerst wirkungsvollen Weg gewählt: Statt die Dokumente selbst sofort ins Netz zu stellen, machte sie diese schon vor mehreren Monaten gleichzeitig der New York Post, der britischen Tageszeitung Guardian und dem Spiegel zugänglich. Deren Journalisten sichteten und prüften zunächst das umfangreiche Material, bevor sie am gestrigen Montag in großer Aufmachung darüber berichteten. Gleichzeitig stellte Wikileaks einen großen Teil der Geheimakten ins Internet.

Die US-Regierung reagierte auf die Veröffentlichung erwartungsgemäß polemisch. In einer am Montag morgen versandten Stellungnahme behauptete Präsident Barack Obamas Nationaler Sicherheitsberater General James Jones, die Bekanntgabe der Dokumente »kann das Leben von Amerikanern und unseren Partnern gefährden« und sie »bedroht unsere nationale Sicherheit«. Außerdem habe Obama am 1. Dezember 2009 eine »neue Strategie« für den Afghanistan-Krieg verkündet, durch die viele in den Geheimpapieren behandelte Mißstände abgestellt worden seien.

Journalisten vergleichen jetzt die von Wikileaks zugänglich gemachten Dokumente mit den Pentagon-Papieren, die Daniel Ellsberg 1971 veröffentlichte. Tatsächlich war deren politische Bedeutung allerdings weit größer, weil sie die Lügen aufdeckten, mit denen die US-Regierung das Land in den Vietnamkrieg gesteuert hatte. Die jetzt im Internet vorliegenden Dokumente hingegen scheinen im wesentlichen Bekanntes zu bestätigen. Das kann indes den großen Wert dieser Veröffentlichung nicht schmälern.

wikileaks.org/wiki/Afghan_War_Diary, _2004-2010

** Aus: junge Welt, 27. Juli 2010


Danke, Wikileaks

Von Roland Etzel ***

Die oberste Riege schweigt vorerst. Der US-Präsident lässt seinen Sicherheitsberater die Stirn in Falten legen und vor den großen Gefahren warnen, die Wikileaks heraufbeschworen habe. Dem Volke wird in unheilschwangeren Worten bedeutet, die nationale Sicherheit sei nun bedroht. Kleiner hat man's nicht, konkreter auch nicht, was darauf schließen lässt, dass dieser Ärger des Weißen Hauses auch eine gute Nachricht sein könnte. Jedenfalls für alle, die den Krieg in Afghanistan ablehnen. Die Erfahrung wenigstens der letzten 100 Jahre sagt: Wenn die Obrigkeit beschwört, die Nation sei bedroht, befürchtet sie vor allem Gefahren für sich selbst, die Glaubwürdigkeit ihrer Politik oder das Bekanntwerden bislang verschwiegener Schandtaten.

Auch die Bundesregierung gibt sich besorgt; erklärt, dass alle Dokumente jetzt geprüft würden. Man darf ihr abnehmen, dass sie sich dabei beeilt, denn man möchte ja vorbereitet sein, wenn die Leichen im eigenen Keller von anderen ausgegraben zu werden drohen. Die Behauptung des Guttenberg-Ministeriums, die Dokumente enthielten keine neuen Erkenntnisse, könnten aber »die nationale Sicherheit der USA und der internationalen Truppen beeinträchtigen«, lässt vermuten, dass es mit der zur Schau getragenen Gelassenheit schon morgen vorbei sein kann.

Dass US-Amerikaner wie Deutsche nun mehr gefährdet seien als vorher, mag stimmen. Es sind vornehmlich jene, die außerhalb ihrer Grenzen nach dem Leben anderer trachten, mit verlogenem Pathos daheim bei Soldatengelöbnissen und -begräbnissen. Sie können sich der Gefahr entziehen: indem sie das Kriegführen beenden.

*** Aus: Neues Deutschland, 27. Juli 2010 (Kommentar)


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