Im Visier des Pentagon
Während Pentagon und FBI Jagd auf die Quellen der Enthüllungs-Website WikiLeaks machen, sorgt eine auf der Internet-Plattform veröffentlichte verschlüsselte Datei für Spekulationen
Wie die US-Zeitschrift »Wired« am Wochenende (31. Juli/1. Aug.) berichtete, war die 1,4 Gigabyte große Datei wenige Tage nach der Veröffentlichung von rund 92
000 US-Geheimdokumenten zum Afghanistan-Konflikt auf WikiLeaks
aufgetaucht. Die Internetseite Cryptome mutmaßte, es könnte sich um eine
Absicherung handeln, falls die US-Behörden gegen WikiLeaks oder dessen
Gründer Julian Assange vorgehen.
Demnach könnte die Datei jene rund 15 000 Datensätze der US-Armee zum
Afghanistan-Einsatz enthalten, die WikiLeaks bislang aus Gründen des
Quellenschutzes zurückgehalten hat. Cryptome vermutet, dass
WikiLeaks-Mitarbeiter für den Fall einer Sperrung ihrer Seite ein
Passwort veröffentlichen könnten, mit dem jeder, der die Datei
heruntergeladen habe, diese entschlüsseln könne.
»Wired« verwies darauf, dass der verhaftete US-Obergefreite Bradley
Manning, auf den die WikiLeaks-Enthüllungen maßgeblich zurückgeführt
werden, vor geraumer Zeit eine weitere Sammlung von 500 000 Vorgängen
aus dem Irak-Krieg zwischen 2004 und 2009 erwähnt habe. Die Dokumente
habe er Assange überlassen.
US-Verteidigungsminister Robert Gates hatte »aggressive« Ermittlungen
angekündigt, wer hinter der Herausgabe der US-Geheiminformationen an
WikiLeaks stecke. Bei der Suche nach der undichten Stelle sei auch die
Bundespolizei FBI eingeschaltet worden.
Unterdessen haben in der afghanischen Hauptstadt Kabul am Sonntag (1.
Aug.) mehr als 200 Menschen gegen einen NATO-Angriff im Süden
protestiert, bei dem nach Angaben der afghanischen Regierung Ende
voriger Woche 52 Zivilisten ums Leben kamen. Die Demonstranten hielten
dabei Schilder mit der Aufschrift »Tod Amerika« und Fotos von mutmaßlich
bei dem Angriff getöteten Kindern.
Der »Spiegel« berichtete, US-Elitesoldaten hätten mindestens einen
Taliban-Kommandeur in Afghanistan mit Hilfe deutscher Informationen
gezielt getötet. Die Bundeswehr habe Qari Bashir 2009 zur Gefangennahme
auf die NATO-Fahndungsliste gesetzt, hieß es. Der Mann sei dann im
November 2009 bei einer mehrtägigen Operation nordwestlich von Kundus
von US-Spezialkräften getötet worden. Bashir habe rund 50 Kämpfer unter
seinem Befehl gehabt. Bei der Operation seien neben Bashir etwa 130
Menschen ums Leben gekommen.
Die Niederlande haben am Sonntag (1. Aug.) als erstes westliches Land
mit dem schrittweisen Rückzug ihrer Truppen aus Afghanistan begonnen.
Auf der Militärbasis Kamp Holland in Südafghanistan wurde das Kommando
an die gemeinsame Truppe der USA und Australiens übergeben.
Seit 2006 waren in der Provinz Urusgan rund 1950 niederländische
Soldaten stationiert. Sie waren dort für die Sicherheit in der Provinz
verantwortlich. Das niederländische Kontingent soll das Land bis Ende
September komplett verlassen haben.
Der Truppenabzug war in den Niederlanden sehr umstritten, darüber war im
Februar die Regierung von Premier Jan-Peter Balkenende zerbrochen.
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hatte die Niederländer
vergeblich gebeten, bis August 2011 in Afghanistan zu bleiben.
* Aus: Neues Deutschland, 2. August 2010
Priorität Mord
Von Arnold Schölzel **
Eine Woche nach der Veröffentlichung von 92000 Militärdokumenten zum
Krieg in Afghanistan gelangen weitere Details über die Strategie der USA
und ihrer Verbündeten an die Öffentlichkeit. Auf der Grundlage eines
Artikels der New York Times (NYT) unter dem Titel »Gezieltes Töten ist
neuer US-Fokus in Afghanistan« berichteten verschiedene Medien der USA
und Großbritanniens in großer Aufmachung am Sonntag über die zentrale
Bedeutung, die Mord und Mordkommandos in der »neuen« Kriegführung von
US-Präsident Barack Obama spielen. Er hatte Ende vergangenen Jahres
angekündigt, 30000 Soldaten zusätzlich nach Afghanistan zu schicken,
angeblich um die einheimische Bevölkerung zu schützen, eine kompetente
Regierung einzusetzen und das Vertrauen der Einheimischen zu gewinnen.
Ab Juli 2011 sollte der Abzug der US-Truppen beginnen.
Acht Monate danach, resümiert nun die NYT, hat diese
»Aufstandsbekämpfung« (counterinsurgency) wenig Erfolg gebracht: »Was
stattdessen gut funktioniert, ist eine Herangehensweise, über die
amerikanische Offizielle viel weniger gesprochen haben:
Terrorismusbekämpfung (counterterrorism), der militärische Ausdruck für
gezieltes Töten von Aufständischen der Al Qaida und der Taliban.« Der
Wechsel zu dieser Strategie könne, so die NYT, »den Charakter des
Krieges ändern und potentiell - aus der Sicht einiger Offizieller - ein
politisches Abkommen mit den Taliban beschleunigen.«
In den letzten fünf Monaten wurden nach dem Bericht der Zeitung 130
wichtige Aufständische ausgeschaltet. Geheimdienstberichte besagten, daß
sich unter den Talibankämpfern die Furcht ausbreite, in höhere
Kommandopositionen zu gelangen wegen der Gefahr, zum Ziel der
US-Spezialkräfte zu werden. Nun werde von Seiten der USA überlegt, ob
der Druck bereits ausreiche, um mit den Taliban zu verhandeln.
Die NYT zitiert außerdem anonym einen Mitarbeiter des Weißen Hauses:
»Wir sind noch nicht in der Lage, um die kumulativen Effekte, von dem,
was wir tun, um ihr Kalkül zu ändern, qualitativ beurteilen zu können.«
Bestätigt wurde der Strategie-Wechsel auch vom zukünftigen Chef des
Central Command der US-Army, General James Mattis, bei einer Befragung
im US-Senat in der vergangenen Woche.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der Eifer der Bundeswehr bei
der Hilfestellung für die US-Killerkommandos. Der Spiegel berichtet in
seiner neuen Ausgabe, daß deutsche Stellen mindestens dreizehnmal Namen
an die gemeinsame Zielliste der NATO in Afghanistan geliefert haben. Das
seien »13 potentielle Todesurteile«, also immerhin zehn Prozent der von
der NYT genannten Zahl getöteter Aufstandskommandeure. Die
Abwiegelungsversuche der Bundesregierung nach der Veröffentlichung der
Kriegsdokumente vor einer Woche stehen damit in einem neuen Licht. Hinzu
kommt: Der Spiegel berichtet im selben Artikel, daß die Obleute der
Bundestagsfraktionen im Verteidigungsausschuß und im Auswärtigen
Ausschuß bereits am 18. Juni von Verteidigungsminister Karl Theodor zu
Guttenberg (CSU) und Generalinspekteur Volker Wieker über »die
Operationen von US-Spezialeinheiten« im Zuständigkeitsbereich der
Bundeswehr »einen kleinen Einblick« erhielten. Mit dem Bundeswehrmandat
für Aufbau und Stabilisierung dürfte das wenig zu tun haben.
** Aus: junge Welt, 2. August 2010
Der Konsens zu Afghanistan bröckelt
Frankreich: Kritik an Kriegsteilnahme ist noch Ausnahme - aber die
Debatte kommt in Schwung
Von Ralf Klingsieck, Paris ***
Bisher herrschte in Frankreich weitgehend Zustimmung zum Einsatz eigener
Truppen am Hindukusch. Nun mehren sich Stimmen, die ein Überdenken des
Engagements fordern.
Die Enthüllungen des Internetportals WikiLeaks über Vergehen und
tödliche Pannen bei der Kriegführung der USA und ihrer Verbündeten in
Afghanistan sind in Frankreich sehr zurückhaltend aufgenommen und
kommentiert worden. Verteidigungsminister Hervé Morin erklärte zu den
aufgelisteten Zwischenfällen mit französischen Militärs, bei denen
afghanische Zivilisten das Leben verloren, über diese sei seinerzeit
offen und ungeschönt berichtet worden. Diese Art von Reaktion entspricht
der Linie, die von Präsident Nicolas Sarkozy und seiner Rechtsregierung
verfolgt wird: Nichts zulassen, was den Konsens quer durch die großen
Parteien zugunsten des französischen Engagements in Frankreich gefährden
könnte.
Das musste dieser Tage auch General Vincent Desportes, Direktor der
französischen Generalstabsakademie Collège interarmées de défense, zur
Kenntnis nehmen. Weil er im Zusammenhang mit der Absetzung des
US-Befehlshabers Stanley McChrystal in einem Interview erklärt hatte,
die Lage in Afghanistan sei »noch nie so schlecht gewesen wie heute« und
ein »Überdenken der dort verfolgten Strategie dringend geboten«, wurde
er von Generalstabschef Edouard Guillaud vorgeladen und scharf verwarnt.
Einer Absetzung von dem Posten entging er wohl nur, weil er sowieso Ende
August in den Ruhestand geht.
Frankreich hat heute in Afghanistan knapp 4000 Militärs und Gendarmen im
Einsatz und ist für die Sicherheit in der Zone nordöstlich von Kabul
verantwortlich. USA-Präsident Barack Obama forderte Ende vergangenen
Jahres von allen Verbündeten 10 000 Soldaten mehr, von Frankreich
speziell 1500, doch Sarkozy schickte nur 80 zusätzliche Ausbilder für
die Polizei. Die Entsendung einer größeren Zahl von Militärs, so
fürchtete er, könnte eine unbequeme Diskussion in der Öffentlichkeit
auslösen.
Dass sich Frankreich 2001 an der Seite der USA in Afghanistan
militärisch engagiert hat, um - wie es damals hieß - die Taliban zu
vertreiben und damit die Wurzeln des internationalen Terrorismus zu
beseitigen, fand bei den meisten Franzosen Verständnis und Zustimmung.
Doch da sich in den seitdem vergangenen Jahren die militärische Lage im
Lande längst wieder verschlechtert hat und abzusehen ist, dass
Afghanistan durch Waffengewalt nicht zu »befrieden« ist, wächst die
Skepsis bei den Franzosen.
Bis heute haben dort 45 französische Soldaten ihr Leben verloren und
seit fast vier Monaten befinden sich zwei Fernsehreporter als Geiseln in
der Gewalt der Taliban. Hinzu kommen immer neue Berichte über die
Korruption in der afghanischen Regierung und der Verwaltung, die dafür
verantwortlich ist, dass von den ins Land gepumpten Milliarden an
Finanzhilfe kaum etwas bei der Bevölkerung ankommt und der Anbau und
Export von Opium längst wieder zum Hauptwirtschaftszweig geworden ist.
Von dem 2001 auf der Konferenz von Bonn verkündeten Ziel der Umwandlung
Afghanistans in einen von der gesamten Bevölkerung akzeptierten und
getragenen demokratischen Staat ist man weit entfernt. Statt sich auf
ein dafür nötiges ziviles Engagement einzustellen, suchen die USA längst
nach Wegen, sich zurückzuziehen und einem Desaster wie im Vietnam-Krieg
zu entgehen.
Darauf setzt auch Sarkozy, denn das würde ihn der Notwendigkeit einer
eigenen Entscheidung entheben. Umfragen haben ergeben, dass heute
bereits eine Mehrheit der französischen Bevölkerung dem militärischen
Engagement in Afghanistan kritisch oder ablehnend gegenübersteht.
Zu der Entsendung französischer Truppen standen bisher nicht nur die
rechte Regierungspartei UMP, sondern auch die Sozialisten und die
Kommunisten. Doch in den vergangenen Wochen gibt es bei der linken
Opposition neue Entwicklungen. Die Kommunisten der FKP fordern jetzt,
die nie geführte Parlamentsdebatte über das französische Engagement
nachzuholen, in Afghanistan selbst solle die UNO das Kommando über alle
ausländischen Militärs und zivilen Hilfskräfte übernehmen. Der ehemalige
sozialistische Verteidigungsminister Paul Quilès geht noch weiter und
forderte in einem Beitrag in der Zeitung »Le Monde«, sowohl die
französischen als auch alle anderen ausländischen Truppen umgehend
zurückzuziehen. In Afghanistan gehe es längst nicht mehr um den Kampf
gegen den internationalen Terrorismus, sondern dort herrsche ein
Bürgerkrieg um die Macht im Lande. Dieser Konflikt jedoch sei durch
ausländisches Militär nicht zu lösen, sondern nur auf politischem Wege.
*** Aus: Neues Deutschland, 2. August 2010
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