Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Im Visier des Pentagon

Während Pentagon und FBI Jagd auf die Quellen der Enthüllungs-Website WikiLeaks machen, sorgt eine auf der Internet-Plattform veröffentlichte verschlüsselte Datei für Spekulationen

Wie die US-Zeitschrift »Wired« am Wochenende (31. Juli/1. Aug.) berichtete, war die 1,4 Gigabyte große Datei wenige Tage nach der Veröffentlichung von rund 92 000 US-Geheimdokumenten zum Afghanistan-Konflikt auf WikiLeaks aufgetaucht. Die Internetseite Cryptome mutmaßte, es könnte sich um eine Absicherung handeln, falls die US-Behörden gegen WikiLeaks oder dessen Gründer Julian Assange vorgehen.

Demnach könnte die Datei jene rund 15 000 Datensätze der US-Armee zum Afghanistan-Einsatz enthalten, die WikiLeaks bislang aus Gründen des Quellenschutzes zurückgehalten hat. Cryptome vermutet, dass WikiLeaks-Mitarbeiter für den Fall einer Sperrung ihrer Seite ein Passwort veröffentlichen könnten, mit dem jeder, der die Datei heruntergeladen habe, diese entschlüsseln könne.

»Wired« verwies darauf, dass der verhaftete US-Obergefreite Bradley Manning, auf den die WikiLeaks-Enthüllungen maßgeblich zurückgeführt werden, vor geraumer Zeit eine weitere Sammlung von 500 000 Vorgängen aus dem Irak-Krieg zwischen 2004 und 2009 erwähnt habe. Die Dokumente habe er Assange überlassen.

US-Verteidigungsminister Robert Gates hatte »aggressive« Ermittlungen angekündigt, wer hinter der Herausgabe der US-Geheiminformationen an WikiLeaks stecke. Bei der Suche nach der undichten Stelle sei auch die Bundespolizei FBI eingeschaltet worden.

Unterdessen haben in der afghanischen Hauptstadt Kabul am Sonntag (1. Aug.) mehr als 200 Menschen gegen einen NATO-Angriff im Süden protestiert, bei dem nach Angaben der afghanischen Regierung Ende voriger Woche 52 Zivilisten ums Leben kamen. Die Demonstranten hielten dabei Schilder mit der Aufschrift »Tod Amerika« und Fotos von mutmaßlich bei dem Angriff getöteten Kindern.

Der »Spiegel« berichtete, US-Elitesoldaten hätten mindestens einen Taliban-Kommandeur in Afghanistan mit Hilfe deutscher Informationen gezielt getötet. Die Bundeswehr habe Qari Bashir 2009 zur Gefangennahme auf die NATO-Fahndungsliste gesetzt, hieß es. Der Mann sei dann im November 2009 bei einer mehrtägigen Operation nordwestlich von Kundus von US-Spezialkräften getötet worden. Bashir habe rund 50 Kämpfer unter seinem Befehl gehabt. Bei der Operation seien neben Bashir etwa 130 Menschen ums Leben gekommen.

Die Niederlande haben am Sonntag (1. Aug.) als erstes westliches Land mit dem schrittweisen Rückzug ihrer Truppen aus Afghanistan begonnen. Auf der Militärbasis Kamp Holland in Südafghanistan wurde das Kommando an die gemeinsame Truppe der USA und Australiens übergeben.

Seit 2006 waren in der Provinz Urusgan rund 1950 niederländische Soldaten stationiert. Sie waren dort für die Sicherheit in der Provinz verantwortlich. Das niederländische Kontingent soll das Land bis Ende September komplett verlassen haben.

Der Truppenabzug war in den Niederlanden sehr umstritten, darüber war im Februar die Regierung von Premier Jan-Peter Balkenende zerbrochen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hatte die Niederländer vergeblich gebeten, bis August 2011 in Afghanistan zu bleiben.

* Aus: Neues Deutschland, 2. August 2010


Priorität Mord

Von Arnold Schölzel **

Eine Woche nach der Veröffentlichung von 92000 Militärdokumenten zum Krieg in Afghanistan gelangen weitere Details über die Strategie der USA und ihrer Verbündeten an die Öffentlichkeit. Auf der Grundlage eines Artikels der New York Times (NYT) unter dem Titel »Gezieltes Töten ist neuer US-Fokus in Afghanistan« berichteten verschiedene Medien der USA und Großbritanniens in großer Aufmachung am Sonntag über die zentrale Bedeutung, die Mord und Mordkommandos in der »neuen« Kriegführung von US-Präsident Barack Obama spielen. Er hatte Ende vergangenen Jahres angekündigt, 30000 Soldaten zusätzlich nach Afghanistan zu schicken, angeblich um die einheimische Bevölkerung zu schützen, eine kompetente Regierung einzusetzen und das Vertrauen der Einheimischen zu gewinnen. Ab Juli 2011 sollte der Abzug der US-Truppen beginnen.

Acht Monate danach, resümiert nun die NYT, hat diese »Aufstandsbekämpfung« (counterinsurgency) wenig Erfolg gebracht: »Was stattdessen gut funktioniert, ist eine Herangehensweise, über die amerikanische Offizielle viel weniger gesprochen haben: Terrorismusbekämpfung (counterterrorism), der militärische Ausdruck für gezieltes Töten von Aufständischen der Al Qaida und der Taliban.« Der Wechsel zu dieser Strategie könne, so die NYT, »den Charakter des Krieges ändern und potentiell - aus der Sicht einiger Offizieller - ein politisches Abkommen mit den Taliban beschleunigen.«

In den letzten fünf Monaten wurden nach dem Bericht der Zeitung 130 wichtige Aufständische ausgeschaltet. Geheimdienstberichte besagten, daß sich unter den Talibankämpfern die Furcht ausbreite, in höhere Kommandopositionen zu gelangen wegen der Gefahr, zum Ziel der US-Spezialkräfte zu werden. Nun werde von Seiten der USA überlegt, ob der Druck bereits ausreiche, um mit den Taliban zu verhandeln.

Die NYT zitiert außerdem anonym einen Mitarbeiter des Weißen Hauses: »Wir sind noch nicht in der Lage, um die kumulativen Effekte, von dem, was wir tun, um ihr Kalkül zu ändern, qualitativ beurteilen zu können.« Bestätigt wurde der Strategie-Wechsel auch vom zukünftigen Chef des Central Command der US-Army, General James Mattis, bei einer Befragung im US-Senat in der vergangenen Woche.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der Eifer der Bundeswehr bei der Hilfestellung für die US-Killerkommandos. Der Spiegel berichtet in seiner neuen Ausgabe, daß deutsche Stellen mindestens dreizehnmal Namen an die gemeinsame Zielliste der NATO in Afghanistan geliefert haben. Das seien »13 potentielle Todesurteile«, also immerhin zehn Prozent der von der NYT genannten Zahl getöteter Aufstandskommandeure. Die Abwiegelungsversuche der Bundesregierung nach der Veröffentlichung der Kriegsdokumente vor einer Woche stehen damit in einem neuen Licht. Hinzu kommt: Der Spiegel berichtet im selben Artikel, daß die Obleute der Bundestagsfraktionen im Verteidigungsausschuß und im Auswärtigen Ausschuß bereits am 18. Juni von Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) und Generalinspekteur Volker Wieker über »die Operationen von US-Spezialeinheiten« im Zuständigkeitsbereich der Bundeswehr »einen kleinen Einblick« erhielten. Mit dem Bundeswehrmandat für Aufbau und Stabilisierung dürfte das wenig zu tun haben.

** Aus: junge Welt, 2. August 2010


Der Konsens zu Afghanistan bröckelt

Frankreich: Kritik an Kriegsteilnahme ist noch Ausnahme - aber die Debatte kommt in Schwung

Von Ralf Klingsieck, Paris ***


Bisher herrschte in Frankreich weitgehend Zustimmung zum Einsatz eigener Truppen am Hindukusch. Nun mehren sich Stimmen, die ein Überdenken des Engagements fordern.

Die Enthüllungen des Internetportals WikiLeaks über Vergehen und tödliche Pannen bei der Kriegführung der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan sind in Frankreich sehr zurückhaltend aufgenommen und kommentiert worden. Verteidigungsminister Hervé Morin erklärte zu den aufgelisteten Zwischenfällen mit französischen Militärs, bei denen afghanische Zivilisten das Leben verloren, über diese sei seinerzeit offen und ungeschönt berichtet worden. Diese Art von Reaktion entspricht der Linie, die von Präsident Nicolas Sarkozy und seiner Rechtsregierung verfolgt wird: Nichts zulassen, was den Konsens quer durch die großen Parteien zugunsten des französischen Engagements in Frankreich gefährden könnte.

Das musste dieser Tage auch General Vincent Desportes, Direktor der französischen Generalstabsakademie Collège interarmées de défense, zur Kenntnis nehmen. Weil er im Zusammenhang mit der Absetzung des US-Befehlshabers Stanley McChrystal in einem Interview erklärt hatte, die Lage in Afghanistan sei »noch nie so schlecht gewesen wie heute« und ein »Überdenken der dort verfolgten Strategie dringend geboten«, wurde er von Generalstabschef Edouard Guillaud vorgeladen und scharf verwarnt. Einer Absetzung von dem Posten entging er wohl nur, weil er sowieso Ende August in den Ruhestand geht.

Frankreich hat heute in Afghanistan knapp 4000 Militärs und Gendarmen im Einsatz und ist für die Sicherheit in der Zone nordöstlich von Kabul verantwortlich. USA-Präsident Barack Obama forderte Ende vergangenen Jahres von allen Verbündeten 10 000 Soldaten mehr, von Frankreich speziell 1500, doch Sarkozy schickte nur 80 zusätzliche Ausbilder für die Polizei. Die Entsendung einer größeren Zahl von Militärs, so fürchtete er, könnte eine unbequeme Diskussion in der Öffentlichkeit auslösen.

Dass sich Frankreich 2001 an der Seite der USA in Afghanistan militärisch engagiert hat, um - wie es damals hieß - die Taliban zu vertreiben und damit die Wurzeln des internationalen Terrorismus zu beseitigen, fand bei den meisten Franzosen Verständnis und Zustimmung. Doch da sich in den seitdem vergangenen Jahren die militärische Lage im Lande längst wieder verschlechtert hat und abzusehen ist, dass Afghanistan durch Waffengewalt nicht zu »befrieden« ist, wächst die Skepsis bei den Franzosen.

Bis heute haben dort 45 französische Soldaten ihr Leben verloren und seit fast vier Monaten befinden sich zwei Fernsehreporter als Geiseln in der Gewalt der Taliban. Hinzu kommen immer neue Berichte über die Korruption in der afghanischen Regierung und der Verwaltung, die dafür verantwortlich ist, dass von den ins Land gepumpten Milliarden an Finanzhilfe kaum etwas bei der Bevölkerung ankommt und der Anbau und Export von Opium längst wieder zum Hauptwirtschaftszweig geworden ist. Von dem 2001 auf der Konferenz von Bonn verkündeten Ziel der Umwandlung Afghanistans in einen von der gesamten Bevölkerung akzeptierten und getragenen demokratischen Staat ist man weit entfernt. Statt sich auf ein dafür nötiges ziviles Engagement einzustellen, suchen die USA längst nach Wegen, sich zurückzuziehen und einem Desaster wie im Vietnam-Krieg zu entgehen.

Darauf setzt auch Sarkozy, denn das würde ihn der Notwendigkeit einer eigenen Entscheidung entheben. Umfragen haben ergeben, dass heute bereits eine Mehrheit der französischen Bevölkerung dem militärischen Engagement in Afghanistan kritisch oder ablehnend gegenübersteht.

Zu der Entsendung französischer Truppen standen bisher nicht nur die rechte Regierungspartei UMP, sondern auch die Sozialisten und die Kommunisten. Doch in den vergangenen Wochen gibt es bei der linken Opposition neue Entwicklungen. Die Kommunisten der FKP fordern jetzt, die nie geführte Parlamentsdebatte über das französische Engagement nachzuholen, in Afghanistan selbst solle die UNO das Kommando über alle ausländischen Militärs und zivilen Hilfskräfte übernehmen. Der ehemalige sozialistische Verteidigungsminister Paul Quilès geht noch weiter und forderte in einem Beitrag in der Zeitung »Le Monde«, sowohl die französischen als auch alle anderen ausländischen Truppen umgehend zurückzuziehen. In Afghanistan gehe es längst nicht mehr um den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, sondern dort herrsche ein Bürgerkrieg um die Macht im Lande. Dieser Konflikt jedoch sei durch ausländisches Militär nicht zu lösen, sondern nur auf politischem Wege.

*** Aus: Neues Deutschland, 2. August 2010


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