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Wut und Trauer nach US-Luftangriff

Afghanisches Dorf beklagt mehr als 90 zivile Opfer / Eingeständnis der "Koalitionstruppen" fehlt *

Der Tod von mehr als 90 Zivilisten bei einem Luftangriff der US-geführten Koalitionstruppen hat in Afghanistan Empörung und wütende Proteste ausgelöst. Eine von Staatspräsident Hamid Karsai eingesetzte Untersuchungskommission bestätigte am Sonntag (24. August) entsprechende Berichte örtlicher Behörden.

Nach dem Tod von vermutlich mehr als 90 Zivilisten bei Gefechten in Afghanistan sind zwei hochrangige Armeekommandeure entlassen worden. Präsident Hamid Karsai habe General Dschalandar Schah Behnam und den Kommandeur Abdul Dschabar wegen »Nachlässigkeit« und »Zurückhaltung von Informationen« entlassen, teilte das Präsidialamt am Sonntag (24. August) in Kabul mit. Nach Angaben einer Untersuchungskommission der Regierung wurden die Zivilisten am Freitag (22. August) bei einem US-geführten Luftangriff nahe dem Dorf Asisabad in der Provinz Herat getötet. Unter den Todesopfern seien zahlreiche Frauen und Kinder. Die genaue Zahl der Todesopfer war am Wochenende noch unklar. Die Koalitionstruppen bestätigten zwar den Einsatz im Bezirk Schindand, sprachen aber von 30 getöteten Taliban.

Die Berichte über den Tod der Zivilisten sorgten in Afghanistan für Entrüstung. Rund 250 wütende Bewohner protestieren am Samstag (23. Aug.) nahe Asisabad gegen die ausländischen Truppen. Afghanische Soldaten seien mit Steinen beworfen worden und hätten in die Luft schießen müssen, um die Demonstranten auseinanderzutreiben, sagte der Kommandeur der Polizeikräfte in der Region, Akramuddin Jawer. Demonstranten zündeten ein Polizeiauto sowie einen Kontrollposten an und blockierten für mehrere Stunden die Hauptstraße nach Herat.

Karsai warf den internationalen Truppen mangelnde Absprache mit den örtlichen Behörden vor. Karsai hatte die von den USA geführten Truppen in der Vergangenheit mehrfach aufgefordert, bei Einsätzen den Tod von Zivilisten zu vermeiden.

Nach Angaben der afghanischen Menschenrechtskommission kamen seit Jahresbeginn 900 Zivilisten durch Kämpfe ums Leben. Im Juli wurden bei Luftangriffen der internationalen Truppen insgesamt 64 Zivilisten getötet. Beim Absturz eines NATO-Hubschraubers in der Provinz Kunar kam am Sonntag ein Mensch ums Leben.

* Aus: Neues Deutschland, 25. August 2008

Wenn Schützen ihr Bestes tun

Von René Heilig **

Die Olympischen Spiele sind beendet. Major Michael E. Anti, Staff Sergeant Libby Callaham, Privat Vincent C. Hamcock und viele andere werden wieder in ihren Standorten zurückerwartet. Die US-Soldaten haben – zur Ehre der USA und ihrer Army – als Sportler gezeigt, dass sie zu den weltbesten Schützen gehören. Anti hat sogar eine Silbermedaille gewonnen.

Während sie ihr Bestes in Peking gaben, taten Kameraden von der US-Air-Force ihr vermeintlich Bestes in Afghanistan. Bilanz in der Provinz Herat: Mehr als 90 tote Zivilisten. Nicht zum ersten Mal haben jene, die vorgeben, den Afghanen die Freiheit zu bringen, Tod und Elend gebracht. Es nützt nichts, dass die in der Operation »Enduring Freedom«-Verbündeten so wie die ISAF Alliierten schon x-mal die Anweisungen zum Einsatz von Bomben und Granaten verschärft haben. Immer wieder treffen sie Unschuldige und auch das Herausgerede, die Taliban würden Frauen und Kinder schamlos für ihre Zwecke missbrauchen, macht keinen Ermordeten lebendig. Ex-Verteidigungsminister Rühe hat recht: Man darf Krieg nicht klein reden. Krieg ist nicht wie Scheibenschießen. Krieg heißt töten und die Medaillen, die es da für gute Schießergebnisse gibt, sind mit Blut von Menschen erkauft.

Wollen deutsche Abgeordnete demnächst wirklich auch noch AWACS zur Bomberleitung nach Afghanistan schicken? Auch Beihilfe zum Mord ist ein Verbrechen!

** Aus: Neues Deutschland, 25. August 2008 (Kommentar)



Die Katastrophe von Asisabad

Über 80 Ziviltote nach Angriff auf afghanische Ortschaft. Ausländische Besatzer und deren ­einheimische Unterstützer geben sich gegenseitig die Schuld

Von Raoul Wilsterer ***


Die »Erfolgsmeldung« der US-geführten Besatzer Afghanistans verwandelte sich innerhalb von 24 Stunden in eine Nachricht des Grauens: Am Freitag hatte die Kommandozentrale der »Internationalen Schutztruppe« (ISAF), wie sich die Interventionisten euphemistisch nennen, erklärt, sie hätte mit afghanischer Unterstützung ein »Treffen von Taliban« in der westafghanischen Provinz Herat angegriffen und dabei 30 zum Teil »führende Funktionäre« getötet. Doch ließ sich diese Version vom »Kampfgeschehen« nicht lange aufrechterhalten. Am Samstag stand fest, daß mindestens 70 Menschen, mehrheitlich Frauen und Kinder, den Angreifern zum Opfer gefallen waren.

Bereits am Freitag (22. August) hieß es aus Regierungskreisen in der Hauptstadt Kabul, »auch fünf Zivilpersonen« (jW vom 23./24.8.) seien gestorben – so das »Verteidigungsministerium«. Und die US-Besatzer erklärten, nicht sie hätten die »militärischen Aktivitäten« geleitet, sondern die afghanische Armee. Dem widersprach am Samstag der dem Westen treu verbundene Präsident Hamid Karsai. Es habe sich um eine »Operation der Koalitionstruppen« gehandelt, die nicht mit den »örtlichen Sicherheitskräften abgestimmt« worden sei. Der Streit um die Verantwortung für die Katastrophe, die am Donnerstag über die Ortschaft Asisabad hereingebrochen war, ging auch am Wochenende weiter.

Unklar blieb indes, wie viele Opfer zu beklagen waren. Die afghanische »Unabhängige Menschenrechtskommission« erklärte nach einem Besuch in Asisabad, mindestens 78 Menschen seien getötet und 25 Gebäude beschädigt worden. Ihr Sprecher Ahmad Naderi kündigte einen Bericht zu dem »Vorfall« (AFP) an, derweil ein US-Militärsprecher »widersprüchliche Angaben« konstatierte. »Offenkundig gibt es Anschuldigungen und eine Diskrepanz«, sagte Oberleutnant Nathan Perry. Ermittlungen vor Ort seien eingeleitet worden – offensichtlich ein Versuch, die Schuld der Besatzer zu relativieren. Zumindest für das Innenministerium in Kabul stand am Samstag fest, daß 76 Tote, darunter 50 Kinder unter 15 Jahren, zu beklagen sind.

Karsai ging am Sonntag (24. August) gar von »89 unschuldigen Zivilisten aus, überwiegend Frauen und Kinder«, und kündigte an, seine Regierung werde in Kürze »notwendige Maßnahmen« ergreifen, um zukünftig zivile Opfer zu verhindern – ein Unterfangen, dem absehbar keine Taten folgen werden. Selbst, wenn es ernstgemeint sein sollte und nicht nur ein, angesichts der Dimension des Grauens, verbaler Versuch, die Situation zu entspannen: »Karsai ohne Macht«, wie er in Afghanistan auch spöttisch genannt wird, fehlen als Marionette des Westens die Möglichkeiten. Die Besatzungsmacht ist sich längst darüber bewußt, daß sie sich im Krieg befindet und die Zivilbevölkerung zukünftig immer stärker betroffen sein wird – zumal auf dem Hintergrund der Tatsache, daß sich der Widerstand »zunehmend aus den Reihen der vom schleppenden Wiederaufbau enttäuschten Jugend« (Berliner Zeitung, 23.8.) rekrutiert.

Kabul, so AFP-Korrespondent Bronwen Roberts am Sonntag (24. Aug.), »ähnelt immer mehr einer belagerten Stadt«. Und der kanadische General und ISAF-Sprecher Richard Blanchette bemerkte, daß die Aufständischen »mutiger geworden« seien - »das muß man zugeben, und in letzter Zeit haben sie gefährliche Aktionen mit größerer Schlagkraft organisiert«. Noch spielte Blanchette den wachsenden Widerstand allerdings als »in Zeit und Ausmaß begrenzte Vorfälle« herunter: »vom militärischen Standpunkt her ist es unmöglich für sie zu siegen«, versichert Blanchette. Trotzdem wollen laut Spiegel (25.8.) »die Briten ihre rund 8000 Soldaten bald auf 12000 aufstocken«. Und nicht nur die gegenwärtige US-Regierung warb in den vergangenen Monaten bei den NATO-Verbündeten um ein »verstärktes Engagement« im umkämpften Afghanistan, auch Präsidentschaftskandidat Barack Obama hatte auf seiner »Welttournee« im Juli auf den Ausbau der Truppenpräsenz insbesondere der »nordatlantischen Partner« verwiesen.

Unterdessen fielen in Asisabad am Sonntag (24. Aug.) erneut Schüsse. Dort hatten laut Agenturberichten »afghanische Soldaten versucht, Lebensmittel und Kleidung in Asisabad zu verteilen«. Sie seien von aufgebrachten Bewohnern mit Steinen beworfen worden, sagte Schulrektor Ghulam Asrat. Daraufhin hätten die Soldaten »gefeuert«. Acht Menschen seien verletzt worden, darunter ein Kind.

*** Aus: junge Welt, 25. August 2008


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