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Gefahr für die Bevölkerung? Immer mehr Kommando-Aktionen am Hindukusch

Ein Beitrag von Christoph Heinzle aus der NDR-Reihe "Streitkräfte und Strategien" *

Andreas Flocken (Moderator)
Der Schutz der Bevölkerung hat Vorrang vor der Bekämpfung der Taliban. Das ist der Kern des Aufstands-bekämpfungskonzeptes von ISAF-Befehlshaber McChrystal. Zivile Opfer müssen bei Militäroperationen vermieden werden. Ist dies nicht auszuschließen, soll beispielsweise auf Luftangriffe verzichtet werden. Spezialkräfte halten sich bei ihren Kommandounternehmen allerdings nicht immer an diesen Grundsatz. Christoph Heinzle hat recherchiert:


Manuskript Christoph Heinzle

Das Gästehaus des Bürgermeisters von Imam Sahib unweit des nordafghanischen Kundus vor einem Jahr - am Morgen des 22. März. Vier Terrorverdächtige waren in der Nacht zuvor hier von einer US-Spezialeinheit festgenommen worden. Ein lokaler Mitarbeiter des Deutschen Entwicklungsdienstes filmt und kommentiert, was von der Operation übrig blieb: eine aufgesprengte Tür, zersplitterte Fensterscheiben und - fünf Leichen mit Schussverletzungen, vor allem in Kopf und Brust.

O-Ton Video Imam Sahib
"Dieser Tote hier war ein armer Mann ohne Schulbildung. Er kehrte nur den Hof und hat niemandem etwas Böses getan, heißt es in dem Kommentar. Und dort ein weiterer Toter. Einen harmloseren Menschen als ihn kann man sich nicht vorstellen. Er wurde liebevoll Hassan Dschan genannt."

Hassan Dschan war geistig zurückgeblieben, ebenso wie ein weiteres Opfer, sagt Dr. Amir Barekzai. Der 58-Jährige ist in Imam Sahib geboren, hat in Deutschland studiert, war vor einem Jahr für den Deutschen Entwicklungsdienst Berater des Bürgermeisters. Barekzai war nur 500 Meter entfernt, als um drei Uhr nachts Hubschrauber und Flugzeuge über der Stadt kreisten, sich Spezialkräfte abseilten und das Gästehaus des Bürgermeisters angriffen -- angeblich auf der Jagd nach Al-Qaida-Kämpfern. Barekzai kannte vier der fünf Toten persönlich. Dass sie mit Al Qaida zu tun haben könnten, hält er für unvorstellbar. Ebenso wenig sieht der Deutsch-Afghane den Bürgermeister, der einst die Taliban vertreiben half, in der Nähe der Extremisten:

O-Ton Barekzai
"Niemals, niemals. Das ist vollkommen auszuschließen. Der Bürgermeister ist ein sehr guter Freund der deutschen Soldaten. Die sind immer gekommen. Der Bürgermeister hat sie bewirtet usw. Also er hat sehr auffällig gute Beziehungen zu den Deutschen gehabt."

Die Kommando-Aktion von Imam Sahib erregt weltweit Aufsehen, wird in der NEW YORK TIMES kritisch diskutiert, US-Fernsehlegende Dan Rather schickt ein Kamerateam:

O-Ton Dan Rather
"We travelled to the town of Imam Sahib in the countries northern Kunduz province."

In der Sendung ringt US-Armeesprecher Greg Julian um Worte, weil sich die verantwortlichen Spezialkräfte nicht dazu äußern wollen, warum die fünf Männer in Imam Sahib sterben mussten.

O-Ton Julian (overvoice)
"Wir halten an unserem Bericht fest, wonach dies legitime Ziele waren. Spezifische Aufklärungsergebnisse aus mehreren Quellen bestätigten, dass zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort Individuen mit Al-Qaida-Verbindungen waren. Deshalb gingen unsere Kräfte hinein und führten die gleiche Operation durch wie immer. Sie umzingelten das Haus und forderten die Beteiligten zum Verlassen auf. Dann wurden unsere Kräfte aus dem Gebäude beschossen, in dem sich die Individuen aufhielten."

Doch Zeugen in Imam Sahib berichten, außer Schüssen aus Schalldämpfern sei nichts zu hören gewesen. Und Amir Barekzai sagt:

O-Ton Barekzai
"Daran ist überhaupt kein Zweifel, dass die Leute überhaupt nicht gekämpft haben. Die Leute waren nicht zum Kämpfen da. Das sind nur Angestellte, die können vielleicht auch kein Gewehr bedienen. Ich habe auch von den Nachbarn gehört und anderen Leuten, dass da überhaupt kein Schuss gefallen ist."

Diese Widersprüche lassen an der Rechtmäßigkeit der Operation zweifeln. Auch für Spezialkräfte gibt es Regeln, stellt der renommierte Berliner Völkerrechtler Christian Tomuschat fest und sagt zu dem Vorfall in Imam Sahib:

O-Ton Tomuschat
"Die unmittelbare Teilnahme an Kampfhandlungen, die entscheidet darüber, ob man nun Gewalt anwenden kann gegenüber einer Person. Meines Erachtens sind solche Aktionen, die gegen Personen ausgeführt werden, die sich nicht in einer Kampfaktion befinden, einfach rechtswidrig, sind sogar Kriegsverbrechen."

Und das in Nordafghanistan, mitten im Verantwortungsbereich des deutschen ISAF-Regionalkommandeurs, unweit des deutschen Wiederaufbauteams, des PRT Kundus. Dazu teilt eine amerikanische ISAF-Sprecherin mit:

Zitat ISAF-Sprecherin
"Operationskräfte arbeiten üblicherweise mit dem ,battle space owner', also dem Eigentümer des Kampfgebietes, zusammen und stimmen sich mit ihm ab, in diesem Fall mit den deutschen Truppen. Spezialkräfte führen die Operation durch und übergeben nach Abschluss die Kontrolle des Gebietes wieder an den 'battle space owner'. Deutsche Truppen wussten von der Operation."

Ganz anders klingt das beim deutschen Verteidigungsstaatssekretär Thomas Kossendey. Der schrieb dem Verteidigungsausschuss des Bundestages:

Zitat Kossendey
"Aufgrund eines Kommunikationsfehlers durch die amerikanischen Stellen wurden weder das Hauptquartier des ISAF Regionalkommandos Nord noch das PRT Kunduz im Vorfeld über die Operation informiert. Das PRT wurde am 21. März 2009 erst unmittelbar vor der Landung gegen 23.09 Uhr Ortszeit da-rüber informiert, dass in Kürze amerikanische Kräfte mit Luftfahrzeugen landen würden, um im Verantwortungsbereich des PRT Kunduz eine Spezialkräfte-Operation durchzuführen. Operative Details wurden nicht bekannt gegeben."

Imam Sahib ist kein Einzelfall. Regelmäßig bleiben Vorfälle im Zusammenhang mit Operationen amerikanischer Spezialkräfte in Afghanistan ungeklärt. Regelmäßig mangelt es an Koordinierung mit regulären Truppen. Dabei spielen Spezialkräfte am Hindukusch eine immer wichtigere Rolle. Die NEW YORK TIMES berichtete Ende vergangenen Jahres von einem deutlichen Anstieg der Geheimoperationen. ISAF-Kommandeur McChrystal will Kommandokräfte vor allem gegen Führungsmitglieder von Taliban und Al Qaida einsetzen:

O-Ton McChrystal (overvoice)
"Es gibt einen gewissen Prozentsatz bei jedem Aufstand oder von Drogenhändlern, die zum Ziel werden, um sie festzunehmen - oder zu töten, wenn sie sich nicht festnehmen lassen wollen."

Die Zahl der zivilen Opfer bei den Operationen möchte der US-General jedoch reduzieren. Immerhin werden US-Spezialeinheiten für den Tod von mehreren Hundert afghanischen Zivilisten allein im vergangenen Jahr verantwortlich gemacht. Jetzt hat Stanley McChrystal erstmals die meisten Kommandokräfte unter sein Kommando gebracht, um die Abstimmung zu verbessern.

Doch profitieren davon auch die Deutschen? Sie haben US-Spezialkräfte etwa in Masar-i-Scharif in Sichtweite. Kommandotrupps nutzen die Logistik der deutschen Stützpunkte. Doch konsultiert wird der deutsche ISAF-General in Masar nicht -- bestenfalls informiert, wie das Bundesverteidigungsministeriums gerade mitteilte:

Zitat BMVg-Antwort März
"Der Kommandeur des Regionalkommandos Nord wird grundsätzlich in seiner Verantwortung als Befehlshaber für seinen Einsatzraum im Vorfeld über Operationen von Spezialkräften unterrichtet und im erforderlichen Umfang auch über deren Ergebnisse in Kenntnis gesetzt. Durch die Einbindung von USA-Kräften auch in den Stab des Regionalkommandos Nord wird voraussichtlich der Informationsaustausch weiter verbessert."

Welche Folgen Kommando-Operationen haben können, ist in Imam Sahib zu sehen. Nach dem Vorfall vom März 2009 gab es Proteste mehrerer Tausend Einwohner. Und rasch hat sich die Sicherheitssituation verschlechtert. Nachts hatten bald die Taliban die Kontrolle. Warum, liegt für Entwicklungshelfer Barekzai auf der Hand: die Taliban hätten Anhänger unter den Unzufriedenen gefunden:

O-Ton Barekzai
"Die Opposition weiß, dass sie jetzt die Leute sehr schnell auf ihre Seite ziehen können. Die Staatsmacht verliert an Autorität. Schauen Sie mal: wenn die Polizei 50 Meter von dem Haus des Bürgermeisters entfernt abwartet, bis sie die Nachricht kriegt, jetzt kannst Du reingehen und sehen, was wir in Deiner Stadt gemacht haben, mit anderen Worten. Da ist es doch klar, dass die Bürger wissen: in unserer Stadt hat unsere Polizei überhaupt keine Autorität."

Wie Barekzai fordert auch Völkerrechtler Tomuschat Aufklärung. Auch darüber, was mit den vier Festgenommenen geschehen ist, über die das US-Militär jede Auskunft verweigert. Strafverfolgung durch die amerikanische Militärjustiz gibt es nach Tomuschats Beobachtung nur selten oder ungenügend. So fordert der Jurist, der die Bundesregierung in internationalen Verfahren vertritt:

O-Ton Tomuschat
"Gerade die Bundesrepublik Deutschland, die sich zu Recht rühmt, ein Rechtsstaat zu sein, darf solche Aktivitäten eigentlich bei ihrem Verbündeten nicht ohne weiteres hinnehmen. Sie müsste nach besten Kräften darauf hinwirken, dass solche Dinge wirklich geklärt werden. Ich sehe das wirklich als eine große Herausforderung für die Bundesregierung. Die Verbündeten, die in Afghanistan tätig sind, müssten alles daran setzen, dass in solchen Fällen absolute Klarheit geschaffen wird. Denn so verspielt man das Vertrauen der Bevölkerung."

Quelle: NDR Info; STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN; 12.04.2010; www.ndrinfo.de


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