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Unversöhnlich gespaltenes Afghanistan

Beide Stichwahlkandidaten bezeichnen sich als Sieger

Von Daniel Kestenholz, Bangkok *

Dem politisch schon so unstabilen Afghanistan droht nach den dritten Präsidentschaftswahlen seit dem Sturz der Taliban der offene Bruch. Der nach vorläufiger Auszählung unterlegene ehemalige Außenminister Abdullah Abdullah hat sich zum Wahlsieger über den ehemaligen Finanzminister Ashraf Ghani erklärt. Der soll laut Wahlbehörde bei der Stichwahl Mitte Juni knapp 14 Prozentpunkte mehr Stimmen als Abdullah errungen haben.

Abdullah allerdings beklagt massiven Wahlbetrug mittels Millionen gefälschter Stimmzettel. Als wollte die Wahlbehörde diesen Vorwurf noch unfreiwillig erhärten, sprach sie am Montag überraschend von insgesamt acht Millionen abgegebenen Stimmen, einer Million mehr als die Behörde noch im Juni erwartete.

Am Montagabend wurde Ghani von Anhängern bereits mit Feuerwerk als neuer Präsident gefeiert, während seine zornigen Gegner von einem »Coup« durch die Wahlbehörde sprachen. Dutzende von Männern, darunter Polizisten, schrien: »Lang lebe Präsident Abdullah!« und feuerten Gewehrsalven in den Nachthimmel. Die Zeichen stehen auf Konfrontation. Aus Abdullahs Kreisen wurde mit Großprotesten und der Ausrufung einer Parallelregierung gedroht.

Die sich noch dieses Jahr aus Afghanistan zurückziehenden USA hatten die Hoffnung auf einen glaubwürdigen Wahlgang geäußert. Jetzt droht ein 13-jähriges, milliardenschweres Engagement zu scheitern – und damit auch die Hoffnung, eine einigermaßen funktionierende Zivilgesellschaft mit stabilen politischen Strukturen schaffen zu können. US-Außenminister John Kerry, der am Freitag in Kabul erwartet wird, erklärte, dass Afghanistan den Verlust von wichtiger Sicherheits- und anderer Hilfe riskiere, wenn jemand die »Macht mit außerrechtlichen Mitteln an sich reißt«.

Dabei muss der respektierte Ökonom Ghani, der ein Vierteljahrhundert im Ausland gelebt hat, nicht der schlechtere Kandidat sein. Nach einer Karriere bei der Weltbank kehrte Ghani im Dezember 2001 nach Afghanistan heim, um den Wiederaufbau mitzuorganisieren. Präsident Hamid Karsai berief ihn ins Kabinett, 2004 wurde er Rektor der Universität Kabul. 2006 galt Ghani sogar als Anwärter für den Posten des UN-Generalsekretärs.

Abdullah fiel es stets schwerer, in Kabul Einfluss und Respekt zu gewinnen. In den Augen seiner Anhänger, die am Montag »Tod Karsai« skandierten, ist eine Elite um den abtretenden Präsidenten für den massiven Wahlbetrug verantwortlich. Doch Abdullah gibt sich noch immer siegesgewiss: »Wir sind stolz, wir respektieren das Votum des Volkes, wir haben gewonnen«, sagte er in seiner Rede. Vom vorläufigen Ergebnis der Stichwahl von 56:44 Prozent gegen ihn ließ er sich nicht weiter beeindrucken.

Jetzt sollen die Stimmzettel von rund einem Drittel der insgesamt 22 000 Wahllokale neu ausgezählt werden. Das Schlussergebnis soll am 22. Juli vorliegen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Juli 2014


Wahlverlierer proklamiert Sieg

Afghanistan: Abdullah erkennt vorläufiges Ergebnis nicht an **

Afghanistan schlittert nach der Stichwahl für das Präsidentenamt vom 14. Juni in eine weitere innenpolitische Krise. Die Wahlkommission hatte am Montag ein vorläufiges Ergebnis veröffentlicht, demzufolge sich der frühere Finanzminister Aschraf Ghani klar gegen den Favoriten und ehemaligen Außenminister Abdullah Abdullah durchsetzen konnte. Auf Ghani entfielen den Angaben zufolge 56,44 Prozent der Stimmen, Abdullah, der die erste Wahlrunde noch gewonnen hatte, kam demnach auf 43,56 Prozent. Die Wahlkommission betonte jedoch, das Endergebnis könne nach der Überprüfung durch die Beschwerdekommission von den vorläufigen Zahlen abweichen. Das endgültige Resultat soll am 22. Juli verkündet werden.

Abdullahs Sprecher Modschib Rahimi nannte das Ergebnis bereits »nicht legitim« und kritisierte, die Wahlkommission hätte mit der Veröffentlichung warten müssen: »Niemand hat das Recht, uns mit gefälschten Stimmen zu regieren.« Demgegenüber betonte Ghanis Sprecherin Heela Erschad, es gebe weiterhin Zeit für eine Lösung. Sie rief die Wahlbeschwerdekommission dazu auf, gefälschte Stimmen auszusortieren.

US-Außenminister John Kerry warnte vor einer »illegalen Machtübernahme« in Afghanistan. Der Chefdiplomat des Landes, durch dessen Invasion 2001 die derzeitigen Zustände herbeigebombt wurden, erklärte am Dienstag in Washington, ein solcher Versuch werde dazu führen, daß Afghanistan von den USA nicht mehr finanziell und militärisch unterstützt werde.

Der mutmaßliche Wahlverlierer Abdullah kündigte an, Kerry werde am Freitag in Kabul erwartet, um bei der Lösung der Wahlkrise zu helfen. Bei einer Kundgebung kritisierte er am Dienstag ein »Dreieck des Betruges« zwischen der Regierung des scheidenden Präsidenten Hamid Karsai, der Wahlkommission und dem Wahlkampfteam Ghanis. »Die Menschen fordern mich auf, ihre Regierung zu verkünden. Ich kann eure Aufforderung nicht ignorieren. Bitte gebt mir ein paar Tage Zeit, die Regierung des Volkes wird bald verkündet werden«, rief Abdullah.

Unterdessen geht der Krieg am Hindukusch weiter. Ein Selbstmordattentäter der Taliban riß am Dienstag in der ostafghanischen Provinz Parwan 16 Menschen mit in den Tod, darunter vier tschechische Soldaten der NATO-Truppe ISAF. Bei den anderen Opfern handelte es sich Behördenangaben zufolge um zehn Zivilisten und zwei Polizisten.

** Aus: junge Welt Mittwoch, 9. Juli 2014


Afghanistan im Dilemma belassen

Roland Etzel zum vorläufigen Ergebnis der Stichwahl ***

Wer tatsächlich die meisten Stimmen bei der Stichwahl in Afghanistan erhalten hat, wird die Öffentlichkeit wohl nie erfahren. Jetzt nach Überprüfung der Wahlergebnisse zu rufen, ist allerdings eine schwere Verkennung der Verhältnisse im Lande. Dafür hätte man vorher Bedingungen schaffen müssen. Die meisten westlichen Politiker, die jetzt alarmierten Gesichts in die Kameras blicken, wissen das auch; mögen es freilich, wie der US-Außenminister, nicht eingestehen, dass vor allem sie selbst es sind, die das jetzige Dilemma zu verantworten haben. Es geht auf, was gesät wurde.

Jetzt zeigen sich einmal mehr die gravierenden Versäumnisse derer, die sich vor mehr als zehn Jahren anmaßten, Afghanistan mittels Militärintervention nach ihrer Vorstellung zurechtzubiegen und das Demokratisieren nannten. Diejenigen, die ernsthaft daran geglaubt und gearbeitet haben, stehen jetzt, wenige Monate vor dem ruhmlosen Abzug eines Großteils der Besatzungstruppen, nicht vor der Krönung, sondern eher dem fruchtlosen Ende ihres Mühens. Das betrifft zahllose ausländische Helfer, vor allem aber die Menschen in Afghanistan selbst.

Wenn jetzt gesagt wird, Afghanistan drohe die Spaltung in verschiedene Machtzentren, so ist das allerdings nichts wesentlich Anderes als der Istzustand, mögen die Personen auch wechseln.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Juli 2014 (Kommentar)


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