Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Hängepartie in Kabul

Beim Streit um das Präsidentschaftsvotum geht es um die Demokratie in Afghanistan

Von Thomas Ruttig *

Wieder einmal war dieser Tage in Kabul von einem »Durchbruch« beim Streit um das afghanische Präsidentenamt die Rede. Ein Dokument dazu solle »bald« folgen.

Über ein Vierteljahr nach der Stichwahl für das Präsidentenamt in Afghanistan hält die Hängepartie zwischen beiden Bewerbern an, scheint aber nun in ihre letzte Phase gegangen zu sein. Inzwischen bestätigte die Unabhängige Wahlbeschwerdekommission (unter ihrer englischen Abkürzung IECC bekannt) den Eingang der Ergebnisse eines Audits aller bei der Stichwahl zwischen Ex-Außenminister Abdullah Abdullah und Ex-Finanzminister Aschraf Ghani am 14. Juni abgegebenen über acht Millionen Stimmen. Auf diese Überprüfung hatten sich beide Kandidaten geeinigt, denn nach vorläufigen Endergebnissen hatte Ghani seinen Rückstand von 13 Prozent und fast 900 000 Stimmen aus der ersten Runde am 5. April in einen 13-Prozent-Vorsprung verwandelt und dabei seinen Stimmenzahl fast verdoppelt.

Abdullah legte sofort Einspruch ein. Er sprach von Betrug in »industriellem Ausmaß« – eine Wiederholung der Fälschungswahl 2009, bei der er dem nun scheidenden Präsidenten Hamid Karsai unterlegen war. Und er prangerte ein »betrügerisches Dreieck« an, zu dem sich der von Karsai kontrollierte Staatsapparat, die ebenfalls von Karsai ernannte Unabhängige Wahlkommission (IEC, nicht mit der IECC zu verwechseln) sowie die Mannschaft des Gegenkandidaten zusammengeschlossen hätten. Der IECC zufolge sollten bis spätestens Donnerstag noch 405 von insgesamt über 23 000 Wahlurnen nachexaminiert werden.

Das entspricht maximal 243 000 Stimmen. Ghanis Vorsprung von einer Million Stimmen wäre damit nicht wettzumachen. Jedoch ist nicht bekannt, wie viele Stimmen schon beim vorangegangenen Audit eliminiert wurden. Abdullah scheint aber davon auszugehen, das er nicht zum Wahlsieger erklärt wird, obwohl er nach wie vor darauf besteht, gewonnen zu haben. Zwar hatte gerade er auf Überwachung durch die Vereinten Nationen bestanden, ließ seinen Sprecher das Audit nun aber als »Show« bezeichnen und zieh die UNO der Parteilichkeit. Man werde deshalb den Ausgang der Überprüfung und damit das Wahlergebnis nicht anerkennen.

Trotzdem scheinen aber die Gespräche zwischen Ex-Außenminister Abdullah und Ex-Finanzminister Ghani über die Bildung einer sogenannten Regierung der nationalen Einheit weiterzugehen, an der sich sowohl der Sieger als auch der Verlierer beteiligen sollen. Umstritten sind die Kompetenzen des neuen Premier-Amtes, auf das Abdullah spekuliert. Er besteht auf exekutiven Vollmachten, während Ghani das letzte Wort beim Präsidenten lassen will. Eine Einigung über diese Frage, die für Sonntag geplant war, kam aber bisher nicht zustande.

Nicht nur beim Audit wurde die Legitimität des afghanischen Wahlprozesses durch klaffende Gesetzeslücken erheblich beeinträchtigt. Den Wahlinstitutionen fehlt wirkliche Unabhängigkeit; niemand weiß, wie viele Wähler es im Lande gibt und wie viele davon tatsächlich abgestimmt haben. Das Wahlergebnis, wie immer es ausfällt, ist deshalb nicht verlässlich. Dabei lag es an den Kandidaten selbst: Bis zuletzt vermochten es beide nicht, sich auf alle Kriterien zu einigen, nach denen faule von gültigen Stimmen getrennt werden sollten. Diese Mängel waren allerdings seit Jahren bekannt. Die US-geführte, stark involvierte internationale Gemeinschaft hatte aber dabei versagt, sie zu schließen. Sie war mehr daran interessiert, die Wahlen nach außen hin akzeptabel zu machen. Mit dem Auszählungschaos des letzten Vierteljahres ist dies augenfällig fehlgeschlagen. Es handelt es sich aber auch um ein Versagen der afghanischen Eliten, die die UNO vorzeitig aus dem Übergangsprozess drängen wollten und darauf bestanden, allein in der Lage zu sein, legitime Wahlen zu veranstalten. Auch das ist gescheitert. Zudem muss bezweifelt werden, dass die von Washington, der NATO, der UNO und auch Berlin angestrebte nationale Einheitsregierung tatsächlich eine Lösung darstellt. Denn sie kann zwar den Verlierer einbinden und damit von dieser Seite angedrohte Gewalt verhindern, führt aber – ähnlich wie Große Koalitionen anderswo – eher zu Stagnation. Was angesichts der reformbedürftigen Institutionen Afghanistans kontraproduktiv wäre.

* Aus: neues deutschland, Freitag 19. September 2014


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Afghanistan-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage