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Ein neuer Präsident und ein Wahlsieger

Der Berg von Krisen bleibt – auch nach der Bildung der "nationalen Einheitsregierung" in Afghanistan

Von Thomas Ruttig *

Mit Ashraf Ghani hat Afghanistan nach langem Hin und Her einen neuen Präsidenten. Doch viele Probleme sind ungelöst. Zum Beispiel die ökonomische Misere infolge des Abzugs der internationalen Truppen.

Seine Wahlkrise hat Afghanistan erst einmal überwunden. Nach gut viermonatigem Auszählen und nochmaligem Überprüfen aller abgegebenen Stimmen hat das Land einen neuen Präsidenten und Nachfolger von Hamid Karsai: Doktor Aschraf Ghani. Am Freitag veröffentlichte die Wahlkommission das amtliche Endergebnis. Demnach wurde Ghani mit 55,27 Prozent zum neuen Staatschef gewählt. Montag soll der frühere Finanzminister Ghani vereidigt werden. Er sprach während der Aushändigung einer Bescheinigung über seinen Sieg von einem »Erfolg für die Nation«.

Mit seinem Wahlkonkurrenten Ex-Außenminister Abdullah Abdullah hatte Ghani sich bereits am vergangenen Sonntag auf die Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit« und die paritätische Aufteilung aller wichtigen Staatsämter geeinigt. Das geschah auch unter erheblichem Druck der US-Regierung, die endlich ihr Truppenstationierungsabkommen für die Zeit nach der internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF ab Anfang 2015 unter Dach und Fach bringen will. Abdullah wird wohl Ministerpräsident – ein Amt, das es bisher in der afghanischen Verfassung nicht gibt. Diese soll daher innerhalb von zwei Jahren geändert werden. Das gleiche gilt für das Amt eines offiziellen Führers der Opposition nach britischem und indischem Vorbild. Dies soll ebenfalls mit einem Abdullah-Anhänger besetzt werden.

Wie Ghani an sein Amt kam, war hingegen merkwürdig: Die Wahlkommission hatte ihn nämlich schon vor einigen Tagen ausdrücklich nicht zum Wahlsieger, sondern »nur« zum neuen Präsidenten erklärt und zunächst kein konkretes Wahlergebnis bekannt gegeben. Das hatte sich Abdullah, der Ghani zuvor Wahlbetrug in »industriellem Maßstab« vorgeworfen hatte, explizit ausbedungen und zur Vorbedingung für seine Zustimmung zur Einheitsregierung gemacht. Die Wahlkommission sandte deshalb zunächst die Wahlergebnisse nur an die beiden Kandidaten. Und das Wahlteam von Ghani, der sich mit 55,3 zu 44,7 Prozent in Front sah, schickte dieses dann per E-Mail in alle Welt.

Zuvor hatte die Wahlkommission zugegeben, dass es wie schon bei der letzten Karsai-Wahl 2009 substanziellen Betrug gegeben hatte. Dieser soll in die »Hunderttausenden« von Stimmen gegangen sein – und zwar auf beiden Seiten. Wenn man die spärlich bekannt gewordenen Zahlen nachrechnet, kommt man auf über 850 000 annullierte Stimmen, zwei Drittel davon waren Pro-Ghani-Voten. Das ist zwar immer noch strafbar, hätte indes das Ergebnis nicht zu Abdullahs Gunsten geändert. So hat dieser sich im Grunde in die Einheitsregierung hineingeblufft. Er ist der eigentliche Gewinner der Wahl.

Was wie eine politische Lösung aussieht, bezieht sich natürlich nur auf die Krise, die durch die Unfähigkeit der afghanischen Institutionen ausgelöst wurde, auf der Grundlage der existierenden Gesetze und Regelungen ein legitimes und unumstrittenes Wahlergebnis zu ermitteln. Das ist ein Armutszeugnis für den politischen Teil der internationalen Intervention im Nach-Taliban-Afghanistan, der ja einen eigenständig funktionierenden Staat zum Ziel hatte. Es ist aber auch ein Versagen der afghanischen Eliten, die wieder einmal ihren Zugang zur Macht über demokratische Mechanismen gesetzt haben. Die grundlegenden Krisen, mit denen sich die Afghanen nach wie vor konfrontiert sehen, sind damit nicht überwunden: Zu nennen wäre die systemische Korruption, der andauernde Krieg mit den selbstbewusster und aggressiver auftretenden Taliban sowie die Wirtschaftskrise. Letztere wird durch den Abzug der meisten internationalen Kampftruppen weiter verstärkt, weil Milliardenaufträge für afghanische Unternehmen wegfallen.

Deshalb finden viele afghanische Kommentatoren, dass nicht einmal die Ghani-Abdullah-Einheitsregierung eine Lösung ist. Lob kommt vor allem von den Beteiligten sowie den westlichen Regierungen und ihren Diplomaten. Die indische Außenministerin indes, jüngst in Kabul zu Besuch, war einige der wenigen Politikerinnen, die sich explizit gegen diese Regierungsform aussprach. Mia Gul Wasiq, ein linksdemokratischer Politiker, wiest auf den neuralgischen Punkt hin: »Es wäre besser gewesen, wenn wir eine transparente Wahl gehabt hätten. Beide Teams wollen ihre Anführer in die Regierung bringen, so dass ich mit weiteren Problemen in der Zukunft rechne.« In der Tat spricht die Koalition Ghani-Abdullah, trotz ihrer Reformversprechen, eher für ein Weiter so.

* Aus: neues deutschland, Samstag 27. September 2014


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