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Schöne Zahlen

Medien feiern hohe Beteiligung bei Präsidentenwahl in Afghanistan. Aber auf die Angaben aus Kabul ist kein Verlaß

Von Knut Mellenthin *

In Afghanistan wurde am Sonnabend ein neuer Präsident gewählt. Acht Kandidaten bewarben sich um die Nachfolge des schon seit Dezember 2001 amtierenden Hamid Karsai, der nicht noch einmal antreten durfte. Falls keiner der Konkurrenten mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen hat, wird ein zweiter Wahlgang zwischen den beiden Bestplazierten erforderlich, der am 28. Mai stattfinden soll. Die offenbar recht mühsame Stimmauszählung wird voraussichtlich bis zum 20. April dauern; mit einem vorläufigen Endergebnis wird erst am 24. April gerechnet.

Lediglich drei Bewerbern wurden vor der Wahl ernsthafte Chancen eingeräumt, und voraussichtlich wird das Rennen sogar nur zwischen zweien von ihnen, Abdullah Abdullah und Aschraf Ghani, entschieden. Abdullah, der vor fünf Jahren gegen Karsai unterlag, gilt als Hauptfavorit des Westens. Aber auch mit dem ehemaligen Weltbank-Manager und Finanzminister Ghani dürften die USA und ihre Verbündeten nicht viele Probleme bekommen.

Alle acht Bewerber haben sich im Wahlkampf darauf festgelegt, daß sie sofort das im vorigen Jahr abgeschlossene, aber noch nicht ratifizierte Stationierungsabkommen mit den USA unterzeichnen würden. Es sichert den Verbleib amerikanischer Soldaten und Stützpunkte mindestens bis zum Jahr 2024. Karsai, der gegen Ende seiner Regierungszeit zunehmend gegen die NATO-Besatzungsherrschaft opponiert hatte, verweigerte schließlich die Unterschrift unter das Papier, weil die US-Regierung darauf besteht, in Afghanistan auch künftig Krieg auf eigene Faust zu führen, und Straffreiheit für ihre Soldaten verlangt.

Die westlichen Mainstream-Medien begannen schon wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale mit der Verbreitung von guter Laune. Vom »Triumph der Demokratie« und »großen Errungenschaft« bis zur »historischen Wahl« waren der Formulierungskunst keine Grenzen gesetzt. Entscheidende Voraussetzung dafür war, daß die Zentrale Wahlkommission in Kabul in atemberaubend kurzer Zeit eine schöne runde Zahl parat hatte: Angeblich hatten von zwölf Millionen Wahlberechtigten sieben Millionen ihre Stimme abgegeben, was einer Wahlbeteiligung von 58 Prozent entspräche. Bei der Präsidentenwahl vor fünf Jahren waren laut offiziellem Endergebnis 4,6 Millionen Stimmen gezählt worden.

Offensichtlich hatte Kabul sich, von erstklassigen amerikanischen Werbeagenturen gut beraten, sehr schnelle Vollzugsmeldungen der örtlichen Wahlleiter bestellt. Aber in einem Land, wo die »vorläufigen Schätzungen« bei früheren Wahlen stets weit von der Wirklichkeit entfernt waren und wo die Stimmauszählung voraussichtlich zwei Wochen in Anspruch nehmen wird, ist die Glaubwürdigkeit solcher Blitzresultate nicht gerade hoch.

Auch die allgemein verbreitete Angabe, daß nur 12 Millionen Menschen – bei einer freilich überdurchschnittlich jungen Gesamtbevölkerung von mehr als 30 Millionen – wahlberechtigt gewesen seien, ist fragwürdig. Einzelne pakistanische Medien geben die Zahl der Wahlberechtigten mit 13,5 Millionen an. Vor der Präsidentenwahl 2009 hatten offizielle NATO-Sprecher behauptet, daß 15,6 Millionen Afghanen in die Wählerlisten eingetragen worden seien. Nach pakistanischen Medien wurden bei früheren Abstimmungen in Afghanistan bis zu 17 Millionen Wählerausweise ausgegeben. Diesmal sollen es mindestens 15 Millionen, nach manchen Meldungen sogar 21 Millionen gewesen sein. Auf der anderen Seite mußten am Sonnabend in manchen Gegenden Zehntausende unverrichteter Dinge nach Hause gehen, weil nicht genug Stimmzettel vorhanden waren. Bis Sonntagabend lagen nach Angaben der Zentralen Wahlkommission bereits 1300 Beschwerden wegen solcher und anderer »Unregelmäßigkeiten« vor.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 8. April 2014

Nach 12 Jahren Krieg in Afghanistan:

Lessons Learned? – Experten ziehen kritische Bilanz

Margret Geitner, Referentin für Außenpolitik, berichtet über die Anhörung des Auswärtigen Ausschusses nach mehr als zwölf Jahren Krieg in Afghanistan **

Rechenschaft abzulegen, einen Zwischenstand zu formulieren – das waren die von Norbert Röttgen, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, formulierten Ziele dieser öffentlichen Anhörung des Auswärtigen Ausschusses am 2. April 2014.

Und diese Rechenschaft war fast einhellig eine sehr kritische. Otto Jäckel, Mitglied von IALANA, International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms, der Sachverständige der Fraktion DIE LINKE, fragte nach, welches System denn der ISAF-Einsatz stabilisiert habe und bezog sich damit auf einen einleitenden Satz von Norbert Röttgen: „Afghanistan ist stabiler, aber nicht stabil geworden“. Jäckel kritisierte, dass die enormen Wahlfälschungen, das korrupte Regime, die Vergabe wichtiger Staatsposten an Gewährsmänner von Karsai, die Macht der Dschihadisten und der Nordallianz – die Herrschaft einer korrupten Oligarchi - das gegenwärtige politische System in Afghanistan bestimme. Dies lehne die Mehrheit der Bevölkerung ab. Die Regierung Karsai sei nicht wirklich demokratisch legitimiert.

Wie bewerteten die Experten die Jahre des „Engagements“ in Afghanistan? Thomas Ruttig, seit mehreren Jahrzehnten mit der Region vertraut, Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik beantwortete diese Frage mit einem Wortspiel: Afghanistan sei kein Failed State, sonder leide unter Failed Aid. Falsche Hilfe, die sich sehr auf den militärischen Kampf gegen die Taliban konzentrierte, die die Hilfsgelder in korrupten Kanälen versickern ließ, die keine Sicherheit für die Afghaninnen und Afghanen schuf, kombiniere sich mit einer nahezu komplett von außen finanzierten afghanischen Wirtschaft. Und das Wirtschaftswachstum habe in keiner Weise die soziale Lage der Bevölkerung verbessert. Auch Ruttig, der Sachverständige der Grünen, plädierte beim Blick auf Afghanistan für Realismus statt Zweckoptimismus.

Der Afghanistan-Einsatz habe von Beginn an eigentlich einem rein militärischen Zwecke gedient, führte Peter Scholl-Latour, als Sachverständiger der CDU-Fraktion bestellt, die ernüchternde Bilanzierung an diesem Nachmittag im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus fort. In seiner unverblümten Art bilanzierte er: „Der Krieg ist verloren. Wir müssen nun gucken, wie wir möglichst heil wieder rauskommen.“

Über die sehr unterschiedlichen Positionen der Afghaninnen und Afghanen zum Ende des ISAF-Einsatzes berichteten Jan Köhler von der FU Berlin, der mit Umfragen im Nordosten Afghanistans seit mehreren Jahren versucht, die Positionen der Menschen abzubilden. Seiner verhältnismäßig optimistischen Einschätzung, dass die Sicherheitslage sich in den von ihm beobachteten Regionen leicht stabilisiert habe, hielten die anderen Sachverständigen entgegen, dass dies von anderen Experten stark hinterfragt werde und wenn überhaupt nur für den Nordosten Gültigkeit habe. In den anderen Regionen habe sich die Sicherheitslage sehr negativ entwickelt. Immer mehr zivile Opfer sind zu beklagen, aber auch Opfer unter den afghanischen Sicherheitskräften und der afghanischen Polizei. 4 600 tote afghanische Soldaten und Polizisten sind eine dramatische Bilanz des Jahres 2013 – eines Jahres, in dem die „Übergabe der Verantwortung – Transition“ weiter voranschritt. Adrienne Woltersdorf, Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul, hält es für einen Erfolg, dass die geplanten Wahlen nun stattfinden werden. Da auf unabhängige Beobachter, aber auch kritische Stimmen aus der UN zu den Wahlfälschungen zum Teil massiver Druck ausgeübt worden sei, werden wohl zu den bevorstehenden Wahlen erheblich weniger Wahlbeobachter fahren, wandte dazu Thomas Ruttig ein.

Insgesamt blieb, dass nahezu einhellig sehr kritisch auf die ISAF-Zeit geblickt wurde, dass man sich manchmal lediglich uneinig war, ab wann der Einsatz begann, falsch zu werden. Lessons Learned könnte man sagen. Wie vor diesem Hintergrund beinahe wöchentlich neue Auslandseinsätze der Bundeswehr von den gleichen hier sehr kritisch argumentierenden Politikerinnen und Politkern beschlossen werden können, blieb bei dieser Anhörung unbeantwortet.

** Quelle: Website der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag, 3. April 2014; http://www.linksfraktion.de




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