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Kabul: Schiedsrichter Kerry pfeift zur Verlängerung des Wahlspektakels

In Afghanistan werden alle Stimmen des Präsidentschaftsvotums noch einmal gezählt

Von Thomas Ruttig *

Wird nun alles gut? Der US-Außenminister konnte zunächst erfolgreich zwischen Afghanistans Kontrahenten vermitteln.

Afghanistans Wahlfinale, der Kampf um die Nachfolge des scheidenden Präsidenten Hamid Karsai, geht in die Verlängerung. US-Außenamtschef John Kerry hat nach 48-stündigen Verhandlungen die von massivem Fälschungsverdacht ausgelöste Krise entschärft, die das mittelasiatische Land in politische Unruhe gestürzt hatte. Unter Kerrys und UN-Vermittlung einigten sich am Sonnabend beide Kandidaten, der ehemalige Finanzminister Aschraf Ghani und der frühere Außenminister Abdullah Abdullah, auf einen Vierpunkteplan. Zum Ersten wird es ein »Audit« aller bei der Stichwahl am 14. Juni abgegebenen 8,1 Millionen Stimmen geben – de facto eine Neuauszählung. Zweitens wird dies in Kabul und nicht in den 34 Provinzhauptstädten und drittens unter internationaler sowie einheimischer Überwachung stattfinden. Schließlich versprachen Abdullah und Ghani, das Ergebnis anzuerkennen und dass der Sieger eine »Regierung der nationalen Einheit« bilden werde. Die für den 2. August geplante Amtseinführung des neuen Staatschefs wurde verschoben.

Die Krise begann nach der Verkündung des vorläufigen Endergebnisses der afghanischen Präsidentenstichwahl vom 14. Juni. Die Wahlkommission IEC hatte Ghani mit 56,4 Prozent und einer Million Stimmen Vorsprung vor Abdullah gesehen, der auf 43,6 Prozent gekommen sei. Damit hätte Ghani seinen Stimmenanteil seit der ersten Runde am 5. April, bei der er noch um 900 000 Stimmen hinter Abdullah lag, auf 4,5 Millionen verdoppelt.

Abdullah führt diesen Umschwung auf Manipulationen »im industriellen Maßstab« zurück und sprach von einem »Putsch durch Wahlfälschung«, organisiert von einem »Dreieck« aus Präsident Karsai, der von Karsai ernannten IEC und Ghanis Wahlteam. Prominente Anhänger forderten die Aufstellung einer Gegenregierung.

Selbst die IEC gab zu, dass es Fälschungen gegeben habe, aber Ghani und Abdullah konnten sich nicht über Umfang und Modus einer teilweisen Neuauszählung einigen. Washingtons Ankündigung, es werde seine Finanzhilfen einstellen, wenn es zu keiner Einigung komme, spielte eine Rolle. Abdullah wie Ghani wissen, dass ihr Land, dessen Budget zu etwa 90 Prozent aus externen Quellen stammt, ohne den größten Geber Bankrott wäre.

Dass die Vermittlung Kerrys überhaupt akzeptiert wurde, auch vom noch amtierenden Karsai, zeugt bereits davon, dass das in den letzten Jahren sehr gespannte Verhältnis zwischen den Regierungen in Kabul und Washington sich wieder verbessern könnte – immer vorausgesetzt, die Neuauszählung scheitert nicht noch an einem Detail.

Karsai hatte sich geweigert, ein bereits seit Jahren angestrebtes bilaterales Abkommen zur strategischen Zusammenarbeit zu unterzeichnen, dass auch die Grundlage für eine weitere Stationierung von NATO-Truppen – im Rahmen einer ISAF-Folgemission – bilden würde. Solch eine Stationierung wird vor allem in der Zivilgesellschaft gewünscht, die befürchtet, die eigenen Streitkräfte könnten einem möglichen Ansturm der Taliban nicht standhalten. Schon jetzt haben sich die Kämpfe ausgeweitet. Vorige Woche berichteten die UN, die Zahl ziviler Opfer habe weiter zugenommen.

Kerrys Vermittlungserfolg ist ein wichtiger Schritt nach vorn. Allerdings bleiben einige Fragen offen. In eine Regierung der nationalen Einheit werden wieder viele Politiker der Karsai-Ära kommen, die sich den beiden Nachfolgekandidaten angeschlossen hatten. Sie würden einer dringend notwendigen Neuausrichtung der Regierungsführung, weg von Korruption und Selbstbereicherung, im Wege stehen. Zudem braucht Afghanistan eine Reform des Wahlsystems, einschließlich eines verlässlichen Wählerregisters, dessen Fehlen erst für den Zahlensalat sorgte, der die Krise auslöste.

* Aus: neues deutschland, Montag 14. Juli 2014


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