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Ende einer Vision der Einheit

Jahresrückblick 2012. Heute: Afrika. Die kolonialen Grenzziehungen stehen zur Disposition

Von Gerd Schumann *

Am 9. Juli 2011 gründete sich die Republik Südsudan. 2012, im Jahre Zwei nach dem afrikanischen Sündenfall, gewann die Tendenz zum Zerfall bestehender Staatsgebilde auf dem Kontinent weiter an Dynamik. Nach der Zerlegung des Sudans, zuvor das größte Flächenland Afrikas, stehen nunmehr Grenzen in der Sahelzone, der Große-Seen-Region und in Nigeria, dem Ölriesen, zur Disposition. Auch die im Zuge des Libyen-Krieges debattierte Aufteilung des Maghreb-Landes ist nicht vom Tisch. Somalia gilt seit längerem als »Failed state«. Insgesamt kennzeichnet die Lagen eine »grenzübergreifende Instabilität« (Le Monde diplomatique). Staaten, deren Regierungen – wie in der Demokratischen Republik Kongo – von Weltbank und Internationalem Währungsfonds weitgehend entmündigt wurden, verfallen.

Der mit visionärem Blick auf ein zukünftig einiges Afrika beschlossene Grundsatz von der Unantastbarkeit der Grenzen zerbröselt in rasantem Tempo. Verkündet 1963 von der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) und immer wieder unterstrichen auch von deren 2002 konstituierten Nachfolgerin Afrikanische Union (AU) schien er zunächst in den post-bipolaren Zeiten der neoliberalen Globalisierung weiterhin zu gelten. Das ist Geschichte. Aktuell hat insbesondere der vom Westen betriebene Sturz des libyschen Revolutionsführers Muammar Al-Ghaddafi, aber auch der Krieg gegen Präsident Laurent Gbagbo in Côte d`Ivoire (Elfenbeinküste) dem zuvor durchaus selbstbewußten Streben nach mehr Souveränität nachhaltig geschadet.

Die AU befindet sich inmitten ihrer bisher schwersten Krise – Ausgang ungewiß. Zwar setzte sich auf ihrer Vollversammlung im Juli 2012 mit der Wahl der ehemaligen südafrikanischen Freiheitskämpferin Nkosazana Dlamini-Zuma zur Kommissionspräsidentin die Vertreterin einer eher pro-afrikanischen Politik durch. Grundsätzlich jedoch verfügt die AU als eines der weltweit größten Staatenbündnisse über weniger Einfluß denn je. Ihre – meist bereits halbherzigen – Versuche, auf diplomatischem Weg die Konflikte in Côte d’Ivoire und Libyen zu lösen, scheiterten nicht nur – sie wurden zudem insbesondere von Paris, aber auch vom UN-Generalsekretär offen sabotiert und ad absurdum geführt. Inwieweit das Wort der AU zukünftig wieder an Gewicht gewinnen wird, hängt letztlich von der Bereitschaft und Fähigkeit ihrer Mitglieder zu einem eigenständigen Kurs ab – ein schwieriges Unterfangen angesichts der globalen Machtverhältnisse.

Die Idee eines einigen Afrikas auf Basis der alten, einst willkürlich gezogenen Kolonialgrenzen ist angeschlagen. Wo sie den Widerstand gegen Unterdrückung, soziale Diskriminierung und Ausbeutung behindert, wirkt sie sogar kontraproduktiv – wie derzeit in Mali. Dort führten 2012 anhaltende Unterentwicklung, Korruption, Repression sowie die wachsende Instabilität in der gesamten Sahelzone auch in Folge des Libyen-Kriegs zur Gründung eines neuen Staats. Die multiethnisch wie auch säkular ausgerichtete Tuareg-Befreiungsbewegung MNLA gab ihm den Namen Azawad. Dessen Anerkennung indes blieb aus. Im Gegensatz zum Sudan sah die AU durch eine Abspaltung des Nordens von Mali die »Einheit« Afrikas gefährdet.

Die MNLA geriet zudem zunehmend unter Druck islamisch ausgerichteter und gut bewaffneter Gruppierungen. Sie scheint inzwischen mit einer nicht näher definierten »Selbstverwaltung« innerhalb Malis einverstanden zu sein. Demnächst wollen Paris und Berlin für die Ausbildung von Militär und Polizei sorgen. Zudem beschloß der UN-Sicherheitsrat kurz vor Weihnachten die Entsendung einer 3300 Mann starken, von der westafrikanische Gemeinschaft (Ecowas) gestellten Eingreiftruppe zur Wiederherstellung der alten Ordnung.

Das mit etwa 20000 Soldaten immer noch größte UN-Blauhelm-Kontingent (MONUSCO) befindet sich seit Jahrtausendbeginn im umkämpften Kongo. Dort deutete auch 2012 nichts auf ein Ende des Schreckens hin. Die mit äußerster Brutalität geführten Auseinandersetzungen um die rohstoffreichen ostkongolesischen Provinzen treiben die geschundenen Menschen tiefer und tiefer ins Elend. Der nun bereits vierte Krieg seit Mitte der 1990er Jahre war im April 2012 von der »M-23-Bewegung« (M23) begonnen worden, einer von Ruanda ausgehaltenen Armee, die mit dem Ziel angetreten war, bis in die Hauptstadt Kinshasa zu marschieren und Joseph Kabila, den schwachen Präsidenten eines instabilen Landes, zu stürzen.

Die MONUSCO geriet dabei mehrfach unter Beschuß. Im November nahm M23 kurzzeitig sogar Goma ein, die Metropole der Provinz Nord-Kivu, und treibt auch heute – trotz UN-Sanktionsdrohungen – ihr Unwesen in der Region. Dabei wird sie weiterhin von der autoritären Tutsi-Regierung Ruandas gestützt. Deren Außenministerin Louise Mushikiwabo drohte Anfang Dezember offen mit einer erneuten militärischen Intervention im Kongo. Daraufhin kündigte Präsident Kabila in Kinshasa an, »die territoriale Integrität verteidigen« zu wollen. Der Kampf um riesige Mengen wertvollster Rohstoffe in der Große-Seen-Region, um Koltan, Diamanten, Gold, Holz, wird auch 2013 weitergeführt werden.

In der Vergangenheit setzten insbesondere die USA, Großbritannien und Deutschland auf den ruandischen Herrscher Paul Kagame. Als dessen Verwicklung in den M-23-Krieg publik wurde, sahen sich alle drei gezwungen, Hilfszahlungen für ihren Freund zumindest teilweise zu sperren. Trotzdem fungiert die ruandische Hauptstadt Kigali nach wie vor als Drehscheibe für den lukrativen Handel mit – geraubten – kongolesischen Bodenschätzen: Die Elektronikkonzerne des Westens bevorzugen die Belieferung von Ruanda aus, grenzübergreifend und völkerrechtswidrig.

Die Infragestellung der Grenzen auf dem Kontinent wird zunehmend zum Mittel der Herrschaftssicherung. Die innerafrikanischen Strukturen, auf der Berliner Konferenz 1884/85 von den Kolonialmächten selbst bestimmt und nichtsdestotrotz auch von den antikolonialen Befreiungsbewegungen ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts akzeptiert, werden immer dann sekundär, wenn sie den Ausplünderungsmechanismus stören. So sieht sich in Nigeria die korrupte Regierung von Präsident Goodluck Jonathan zunehmend und landesübergreifend mit Angriffen, Anschlägen, Entführungen und Protesten konfrontiert. Diese werden als »terroristisch«, »islamistisch« oder »kriminell« gewertet. Ethnische oder religiöse Unterschiede – im Vielvölkerstaat Nigeria leben etwa 400 Volksgruppen, 45 Prozent der Bevölkerung sind Muslime, 40 Prozent Christen – werden zu ursächlichen Konfliktgründen erklärt. Eine Kritik der sozial bedingten Konfliktursachen findet hingegen nicht statt. Die seit Jahrzehnten anhaltende Armut im ölreichsten Land Afrikas wuchs auch 2012 weiter. Während eine kleine, aber einflußreiche Clique in Abudja die Bodenschätze an internationale Energiekonzerne – Hauptabnehmer sind die USA – verschachert, leben Dutzende Millionen Menschen im Nigerdelta und in Lagos ebenso wie im muslimischen Norden in monumentalen Slumgebieten und erbärmlicher Armut.

Davon kein Wort: Islamischer Norden gegen christlicher Süden, lautet die mediale Verdummungsformel. Sie schließt eine Spaltung des Landes ein, dessen »Einheit« Jonathan Ende April nach einem Angriff auf einen Polizeikonvoi beschwor. Sie müsse durch »Verurteilung und Ablehnung der Terroristen« verteidigt werden. Doch letztlich entscheidet der Zugriff auf das schwarze Gold im Nigerdelta und offshore im Golf von Guinea über die Zukunft des Staatsgebildes. Siehe Sudan.

* Aus: junge Welt, Freitag, 4. Januar 2013


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