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Afrika sollte "entberlinisiert" werden

Professor Ibrahima Thioub über die Verantwortung der afrikanischen Eliten


Prof. Ibrahima Thioub gehört zu den brillantesten Historikern Afrikas. Der 55-jährige Senegalese ist Professor für moderne und zeitgenössische Geschichte an der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar. Er ist besonders bekannt für seine kritische Analyse der post-kolonialen Zeit und der Entwicklungspolitik auf dem afrikanischen Kontinent. Mit ihm sprach am Rande des derzeit in Berlin laufenden Dialogforums »50 Jahre afrikanische Unabhängigkeiten« des Vereins AfricAvenir für das "Neue Deutschland" (ND) Claudia Altmann.

ND: Zahlreiche Länder Afrikas begehen in diesem Jahr den 50. Jahrestag der Unabhängigkeit. Was gibt es zu feiern?

Thioub: Ja, diese Länder sind unabhängig, weil sie eine eigene Fahne, eine Verfassung, eine Nationalhymne haben und ihre Souveränität international anerkannt ist. Aber wie fragt doch der Held im Roman »Der letzte Fürst« von Ahmadou Kurouma: »Wann ist die Unabhängigkeit endlich zu Ende?« Für Fama Doumbouya brachte sie nur einen Partei- und Personalausweis und Aufenthalte in den vom Kolonialismus übernommenen und immer schlimmer gewordenen Gefängnissen. Es besteht sicher Grund, stolz auf die Unabhängigkeit zu sein, aber in vielen Ländern hat sich für die einfachen Menschen das tägliche Leben verschlechtert. Das trifft auch auf die politischen Verhältnisse zu. Gab es vorher trotz der kolonialen Repression einen öffentlichen Raum mit Mehrparteiensystemen und einer freien Presse, brachte die Unabhängigkeit autoritäre Regime, brutale Unterdrückung, Einheitsparteien, eine geknebelte Presse und Staatsstreiche.

Inzwischen gibt es Anzeichen der Besserung, oder?

Leichte. Erst in den 90er Jahren hat der Kampf um mehr Freiheiten und die Rückgewinnung des öffentlichen Raumes begonnen. Wirtschaftlich hat Frankreich in seinen ehemaligen Kolonien durch die Einsetzung eines neokolonialen Systems die Oberhand über die wichtigsten Bereiche behalten und dafür gesorgt, dass kulturell die Frankophonie weiterhin dominiert. Diese Art der Unabhängigkeit ist also höchst fragwürdig. Die Gesellschaften sollten über andere institutionelle Formen nachdenken, die den Menschen eine echte Beteiligung erlauben. Warum nicht sogar andere Formen des Zusammenschlusses als die bei der Berliner Konferenz festgelegten?

Wie sollten alternative Strukturen und Zusammenschlüsse aussehen?

Die beibehaltenen kolonialen Grenzen haben Konflikte nicht verhindert. Sie sind oft zu Frontlinien geworden. Diese Aufteilung hat zudem unzählige mörderische innerstaatliche Konflikte ausgelöst. Afrika sollte daher »entberlinisiert« werden. Das ist vielleicht schwer vorstellbar, aber man kann nicht etwas Neues wollen und die alten Strukturen, die durch äußere Einmischung entstanden sind, beibehalten. Wir müssen dazu aber wissen, welche Art von Wirtschaft und Gesellschaft wir wollen. Man könnte zum Beispiel mit einem einheitlichen Pass für die Bürger der Afrikanischen Union anfangen. Warum bekomme ich als Senegalese ein Visum für Kenia nur bei der britischen Botschaft in Dakar? Der schnellste Weg von Dakar nach Nairobi ist über Brüssel. Das ist doch abwegig, nicht wahr? Reiseerleichterung erfordert auch die Modernisierung der Infrastrukturen. Dasselbe gilt für die Dezentralisierung. Anstelle der jakobinischen, die mit ihrer zentralen Kontrolle überall nur regionale und identitäre Konflikte provoziert hat, sollte eine sinnvolle mit lokal gewählten Regierungen treten.

Die Kolonisierung Afrikas hat nur etwa zehn Jahre gedauert. Sie sehen den Hauptgrund dafür in der damaligen tiefen Kluft zwischen Eliten und Bevölkerungen. Besteht dieses Problem immer noch?

Das ist eine Frage höchster Aktualität. Ich vertrete die Ansicht, dass kein Land kolonisiert werden kann, solange seine Elite nicht geschlagen ist und das gelingt nur, wenn diese aufgrund ihres Verhaltens die Legitimation bei den Menschen verloren hat. Damals war es deren Beteiligung am Sklavenhandel, der ganze Gesellschaften verwüstet hat. Die Menschen haben in ihren Führern nur noch Räuber gesehen. Hat sich daran etwas geändert? Ich bin da nicht so sicher. Das ökonomische Modell, das die Ressourcen herauspresst und außer Landes schafft, besteht Dank der Eliten weiter. Diese zählen mehr auf das Ausland, als auf ihre eigenen Bevölkerungen.

Welche Verantwortung tragen die multinationalen Konzerne für diese Entwicklung?

Es ist sehr einfach andere für seine Situation verantwortlich zu machen. Ohne Zweifel sind die multinationalen Konzerne in Afrika extrem zerstörerisch. Aber sie bedienen sich dabei der Eliten, die ihnen die Tore öffnen. Diese geben sich einem luxuriösen Konsum hin, während den Menschen der Zugang zum Lebensnotwendigsten immer mehr verbaut wird. Sie importieren Waren ohne Wert für die Wirtschaft und das tägliche Leben, die vielmehr Symbole von Macht und Unterdrückung sind. Also sind sie Räuber. Diesmal werden die jungen Leute zwar nicht verkauft, aber wie zu Zeiten des Sklavenhandels steigen sie in Boote und sterben zu Tausenden auf dem Atlantik, nur dass es heute eine regelrechte Lieferung frei Haus ist. Gerade wenn man 50 Jahre Unabhängigkeit feiert, sollte man sich eine Frage stellen: Warum ist Afrika der einzige Kontinent, den die meisten seiner Bewohner verlassen wollen?

Afrika blickt auf eine große Geschichte zurück. Aber wie wichtig ist Ihre Arbeit heute für die Afrikaner?

Aus der Geschichte der großen Persönlichkeiten können die jungen Leute heute sicher Stolz und Elan ziehen. Aber das wird nicht lange anhalten. Ihnen ständig nationalistische Erzählungen vorzusetzen und von den schönsten Zivilisationen zu berichten, beantwortet nicht die Frage, warum die Menschen in Pirogen steigen und nach Spanien wollen. Das wollen sie wissen. Warum gibt es so viel Gewalt bei so viel Reichtum? Wie funktioniert das System der Ressourcenaufteilung? Ist es legitim? Es gibt Tabuthemen, wie den innerkontinentalen Sklavenhandel und die Rolle der Hierarchien in den afrikanischen Gesellschaften. Die Geschichte des Kontinents gibt auf all das Antworten, aber es ist sehr schwer diese Themen in die Schulbücher zu bringen oder darüber zu diskutieren. Ich glaube die echten Historiker sind heutzutage die Rapper, denn sie werfen in ihren Songs all diese Fragen auf.

(Weitere Informationen unter: www.africavenir.org)

* Aus: Neues Deutschland, 2. November 2010


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