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Black man’s burden – white man’s ...

Die historischen Wurzeln der Flüchtlingsdramen in Afrika

Von Gerhard Armanski*

Ceuta und Melilla – im 15. Jahrhundert Bastionen der iberischen Eroberung Nordwestafrikas und lange Zeit kaum beachtete restkolonialistische Exklaven – sind nun Schaufenster eines unerhörten Flüchtlingsdramas geworden. Die verzweifelten Menschen aus Schwarzafrika wollen nichts als nach Europa, dem gelobten Kontinent, dem eigenen Elend entfliehen. In ihrer Mehrheit sind es »Wirtschaftsflüchtlinge«, denen die Aussichtslosigkeit in ihren vom Weltmarkt abgehängten und oft von klientelistischen Regierungen ausgenommenen Heimatländern auf den Nägeln brennt.

Was indes hierzulande als hausgemachtes Problem erscheint, ist nichts anderes als das Folgebeben einer langen europäisch-afrikanischen Geschichte, in der die Sklavenhändler und Kolonisatoren aus dem Norden die autochthonen Gemeinwesen deformierten oder zerstörten, um sich deren Ressourcen anzueignen: Rohstoffe und billige Arbeitskräfte.

Der reiche Norden gefällt sich in der Rolle des besorgten Spenders – man denke an den G-8-Gipfel dieses Jahr zu »Schuldenerlass« – , obgleich der Ressourcentransfer aus dem Süden weitgehend ungebremst weiter geht. In manchen Kirchen hatte man früher einen »Nickneger« für den Obolus des schlechten Gewissens stehen. Viel anders ist das jetzt auch nicht.

Eine ernsthafte Debatte über die strukturellen Disparitäten des Weltsystems wird an einigen unangenehmen Wahrheiten nicht vorbeikommen. Dazu gehört das Wissen, daß der afrikanische Kontinent zur Zeit seines ersten Kontakts mit den Europäern mitnichten ein geschichtsarmes und dürftiges Areal war. Vielmehr blühten von Ghana, Mali, Songhai über die Ashanti und Uganda bis zu den Sandsch-Gebieten am Indischen Ozean einheimische Kulturen, die arabischen und europäischen Besuchern für ihre zivilisatorischen Errungenschaften Bewunderung abnötigten. Die herrlichen Bronzen von Benin versetzen Kunsthistoriker nach wie vor in Entzücken. Jene Herrschaftsbereiche gründeten sich auf einen weitverzweigten Handel mit Gold, Salz und Sklaven, waren meistens muslimisiert und glänzten mit muslimischer Gelehrsamkeit. Am Vorabend des europäischen Eindringens gab es eine große Bandbreite von kommunalistischen bis zu miliär- und handelsstaatlichen Sozialformen. Niemand weiß, ob und wie sie sich zum Kapitalismus oder einer anderen Gesellschaftsformation hin entwickelt hätten. Die Linien brachen ab oder wurden deformiert.

Im Gefolge der zunächst portugiesischen, später auch holländischen, französischen und englischen »Entdeckung« der Küsten des schwarzen Kontinents entstanden mit Gewalt und/oder Überredung europäische Handelsfaktoreien, denen es ursprünglich um den Erwerb des im frühkapitalistischen Europa heißbegehrten Goldes ging. Alsbald entdeckten die gewappneten Kaufleute jedoch ein anderes Gut, das anscheinend unerschöpflich vorhanden war: Menschen, vulgo Sklaven. Des christlichen Liebesgebots zum Trotz ließen sie von arabischen Händlern und einheimischen Potentaten die für die Plackerei auf den neuweltlichen Plantagen geforderten Arbeitskräfte zu Paaren treiben und gewinnbringend verschiffen. Man schätzt die so gewaltsam außer Landes gebrachten Afrikaner auf mindestens zehn Millionen, wozu noch zweimal so viel bei den Razzien und Überlandmärschen Umgekommene zu zählen sind. Das bedeutete nicht nur einen ungeheuren Bevölkerungsverlust, zumal vorwiegend Junge weggefangen wurden. Es führte auch zur technisch-handwerklichen Stagnation, zur Verformung einheimischer Herrschaften zu Sklavenhandelsstaaten wie etwa Dahomey, die Feuerwaffen, Tuche u.a. gegen die menschliche Ware tauschten, und schließlich zu einem endemischen Klima der Angst und Verunsicherung. Die Versklavung der Afrikaner bildete sich als Bestandteil des werdenden kapitalistischen Weltmarkts heraus. Im Dreieeckshandel zwischen den Mutterländern, den Sklavenfanggebieten und den Kolonien wurden satte Profite erzielt. Dieser Ressourcentransfer trieb nicht zum geringsten die Kapitalisierung Westeuropas, im Schiffsbau und Seehandel, im Bankwesen und der frühen Industrie voran.

Der Reichtum Europas beruht insofern auch auf den Knochen von Millionen Schwarzen, vom rassistischen Hochmut, den der Handel mit ihnen und ihre Vernutzung mit sich brachten, ganz zu schweigen. Die Verwandlung Afrikas »in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute« gehört zur »Morgenröte der kapitalistischen Produktionsweise«, notierte Karl Marx. Und Pierre Bertaux sekundiert: »Die Berührung mit der europäischen Kultur ist den afrikanischen Kulturen zum Verhängnis geworden; sie hat ihre traditionellen Formen zerschmettert.«

Damit nicht genug. Nachdem die Sklaverei mit der sich entfaltenden kapitalistischen Produktionsweise unvereinbar geworden war und unterbunden wurde, blieb Afrika beileibe nicht sich selbst überlassen. Vielmehr wurde es im 19. Jahrhundert imperialistisch in Wert gesetzt. Mithilfe neuer Transportmöglichkeiten und moderner Bewaffnung, der die Afrikaner nichts entgegenzusetzen hatten, setzte der »scramble for Africa« ein, indem Europas Kolonialstaaten miteinander wetteiferten, sich möglichst große Stücke des Kontinents unter den Nagel zu reißen. Die ansässige Bevölkerung blieb, was sie in der vorhergehenden Epoche geworden war: Objekt der Akkumulation des westlichen Kapitals. Erneut etablierte sich ein großangelegter Reichtumsflußssin seine Zentren. Dessen Hebel bestanden nun in der Gewinnung billiger Rohstoffe für die Industrie, die nicht selten – am abscheulichsten im Kongo – mit Zwangsarbeit einherging, im Absatz industriell gefertigter Massenware und schließlich in der Nötigung der Bauern zur wohlfeilen Produktion von (welt)marktfähigen Erzeugnissen wie Erdnüssen oder Kakao. In den Kolonien entwickelte sich eine vom Oberherrn abhängige Schicht einheimischer kommerzieller und politischer Zwischenträger, die das kulturelle Modell der Kolonialstaaten nachzuahmen trachteten und ihrer eigenen Bevölkerung entfremdet waren. Es war die Zeit, in der man »Zulukaffern« in den europäischen Zoos präsentierte wie eine seltene, exotische und zugleich verachtete, selten bemitleidete, Spezies. »The black man certainly has to pay dear for carrying the white man's burden«, schrieb George Padmore, westindischer Panafrikanist.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, der die innere Schwäche und Zwietracht der Mutterländer offenbarte, regten sich in Kolonien stärker Bestrebungen zur Unabhängigkeit. Sie wurde auch mehr oder minder leicht gewonnen. Denn der direkte Kolonialismus hatte sich als Herrschafts- und Ausbeutungsform überlebt. Die neuen Herren in den ehemaligen Kolonien proklamierten im Überschwang des Kampfes ehrgeizige wirschaftliche Entwicklungsprogramme und die Parole »Afrika den Afrikanern«, einen »afrikanischen Sozialismus« gar. Aber sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn sowohl die Politik eigengestützten Fortschritts, etwa der Importsubstitution, wie die Politik der eigenförderlichen Integration in den Weltmarkt scheiterten. Die Gründe dafür sind neben Mängeln in der politischen Kultur der jungen Länder und der Zerrissenheit der Kontinents zweifellos in der Hinterlassenschaft des europäischen Kolonialismus zu suchen.

Die Uhren der Sklaverei sind abgelaufen. Es gibt nicht mehr viel zu holen in Afrika. Doch wenn es um mehr gehen soll als die Verwaltung der Armut, ist für Afrika mehr als nur halbherziger Schuldenerlass nötig.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2005


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