Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Warten auf die Renaissance des schwarzen Kontinents

Unfaire Handelsbedingungen und interne Hemmnisse bremsen den Aufschwung

Von Thomas Nitz *

Mehr als zehn Jahre sind inzwischen vergangen, seit Thabo Mbeki die »Afrikanische Renaissance« ausgerufen hat: Was ist aus dieser viel versprechenden Verlautbahrung geworden?

Afrika habe eine blühende Zukunft, wenn es sich seiner Verantwortung stelle und sein Schicksal endlich selber in die Hand nehme, verkündete Thabo Mbeki Mitte der 1990 Jahre, damals noch südafrikanischer Vizepräsident hinter Nelson Mandela. Die Fakten sprechen gegen Mbeki. Nach wie vor weist Afrika weltweit die schlechtesten Lebensbedingungen auf, ist geplagt von Hunger, Armut, Kriegen und Epidemien. Die 27 weltweit am wenigsten entwickelten Länder befinden sich südlich der Sahara. Gerade mal 1,3 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der Welt werden von Afrika erbracht. Tendenz fallend. Mehr als die Hälfte der 880 Millionen Afrikaner hat kaum weniger als einen Dollar am Tag zum Leben. Den meisten afrikanischen Staaten geht es schlechter als zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit. Obwohl seit 50 Jahren mehr Entwicklungshilfe nach Afrika geflossen ist als in jede andere Region der Welt. Zudem besitzt der Kontinent so viele Bodenschätze und natürliche Energieressourcen, dass dieser Reichtum als ein »geologischer Skandal« gilt. Was aber sind die Gründe für die Dauermisere? Warum ausgerechnet Afrika? Warum sind bisher sämtliche Entwicklungsprogramme gescheitert? Warum hat sich die Situation des Kontinents trotz seiner Naturreichtümer kontinuierlich verschlechtert? Und wer ist letztlich schuld daran?

Gerade die Frage nach der Schuld wird in Afrika nur sehr zögerlich diskutiert. Viele Politiker tun sich schwer, einen direkten Zusammenhang zwischen ihrem Handeln und der Situation in ihren Ländern herzustellen. Im Allgemeinen werden Kolonialismus und Sklaverei, Neukolonialismus, die Handels- und Subventionspolitik des Westens, die Schuldenfalle und die Strukturanpassungprogramme von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank für die Fehlentwicklung verantwortlich gemacht. Extrembeispiel ist Robert Mugabe, jener Despot, der Simbabwe seit der Unabhängigkeit 1980 regiert. Mit seiner Unnachgiebigkeit steuert er die einstige Kornkammer Afrikas in den Ruin. Für die wirtschaftliche Talfahrt werden von Mugabe ein Komplott aus britischen Neokolonialisten, eine vom Westen gesteuerte Opposition und die noch im Land verbliebenen weißen Farmer verantwortlich gemacht. Solcherlei Verschwörungstheorien sind nicht ungewöhnlich für Afrika. Sie gehören zum Instrumentarium vieler Machthaber, um vom eigenen Versagen abzulenken. Selbst für demokratisch gewählte Regierungen ist ein Mangel an Selbstkritik nicht untypisch.

Einfluss westlicher Interessen Unbestritten wirken eine Vielzahl kolonialer Folgeerscheinungen bis heute nach. Die Abhängigkeit von den einstigen Kolonialmächten ist in veränderter Form erhalten geblieben. Noch immer sind ganze Volkswirtschaften auf ausländische Bedürfnisse ausgerichtet. So wird der uneingeschränkte Zugriff auf die Rohstoffe des Kontinents garantiert. Die »Öffnung«, die den afrikanischen Regierungen von IWF und Weltbank im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen aufgenötigt wird, liefert die schwachen afrikanischen Volkswirtschaften dem Weltmarkt aus. Gegen die subventionierten Agrarprodukte aus der EU und Nordamerika sind die afrikanischen Produzenten chancenlos. So können Überschüsse aus dem Westen bequem in Afrika entsorgt werden. Wird Afrika letztlich doch zwischen westlichen Wirtschaftsinteressen zerrieben? Gerade diese Haltung aber, die Verantwortung für die Misere primär dem Westen zu übertragen, wirkt sich lähmend auf Produktivität und Eigeninitiative aus. Denn schließlich ist der Westen als Kompensation für erlittenes Unrecht ja dazu verpflichtet, Hilfe zu leisten, argumentieren nicht wenige afrikanische Politiker und festigen damit eine Empfängermentalität, die sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht.

Verstärkt wird diese Haltung noch durch die Humanitätsduselei ausländischer Helfer. Tatsächlich ist Entwicklungshilfe heute in einigen afrikanischen Ländern zu einer Dauerlösung geworden und stellt oft die einzige Strategie dar, die ökonomischen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Zudem übernehmen Entwicklungshelfer viele Aufgaben, die eigentlich Sache des Staates wären. Beispiel Äthiopien: Das Land wird in den Statistiken von UN und Weltbank als eines der ärmsten Länder der Erde aufgeführt, unterhält aber die größte Armee auf dem ganzen Kontinent. Für die Versorgung der Bevölkerung hingegen fühlt sich die Regierung in Addis Abeba schon lang nicht mehr zuständig. Das ist Aufgabe der 325 registrierten Hilfsorganisationen im Lande.

Viele afrikanischen Länder haben die Strukturen aus der Kolonialära übernommen. Die Befreier machten nach der Unabhängigkeit an der Stelle weiter, wo die kolonialen Unterdrücker aufgehört hatten. Noch heute sind selbst demokratisch gewählte Regierungen mit einer nahezu absoluten Machtfülle ausgestattet. Der Staat dient primär der Bereicherung der politischen Elite und ihrer Angehörigen, statt die Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen. So wandert für Investitionen dringend benötigtes Kapital auf ausländische Konten. Die UN-Wirtschaftskommission für Afrika schätzt, dass die Kapitalflucht aus Afrika um einiges höher ist, als die Entwicklungshilfe.

Führende afrikanische Wirtschaftsexperten sehen in der »Alimentierung durch den Westen« gar eine der Hauptursachen für Afrikas Misere. Für den kenianischen Ökonom James Shikwati erzeugt die ausländische Hilfe genau das, was sie bekämpfen möchte: Abhängigkeit und Untätigkeit. Für fremdfinanzierte Projekte empfänden die Menschen vor Ort keine Verantwortung, argumentiert er. Das sei auch der Grund, warum so viele Entwicklungshilfeprojekte scheitern. Der 36-Jährige wirbt für eine wirtschaftliche Entwicklung, die aus eigenen Kräften in Afrika selbst entsteht. Dazu gründete er 2001 das Inter Region Economic Network (IREN) in Nairobi. Das Institut befasst sich mit Konzepten für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung in Afrika. Auch Korruption entstehe seiner Meinung nach aus der Entwicklungshilfe. Solange sich afrikanische Politiker an ausländischen Steuergeldern bereichern, stört es die Menschen auf den Straßen von Nairobi herzlich wenig. »Wer die Korruption verhindern will, muss den Hahn zudrehen«, erklärt Shikwati.

Anstelle von Entwicklungshilfe fordert er eine echte Partnerschaft zu gegenseitigem Nutzen: Einfache Geschäfte statt Geldgeschenke. Seine Überlegungen setzen allerdings eine faire Handelspolitik seitens des Westens voraus, die zweifellos mehr bewirken könnte als jede Entwicklungshilfe. Der uneingeschränkte Handel mit den reichen Nationen würde Afrika einen Jahresgewinn von 70 Milliarden Dollar bescheren, rechnet Shikwati vor. Die Vereinten Nationen gehen von 20 Milliarden Dollar aus, die den afrikanischen Staaten an Exporteinnahmen allein durch den Agrarprotektionismus der EU und Nordamerikas jährlich verloren gehen.

Mit höherer Hilfe aus der Armut

Der US-amerikanische Starökonom Jeffrey Sachs macht für das Scheitern der Entwicklungshilfe deren Halbherzigkeit verantwortlich. Vor allem aber sei viel zu wenig Geld aufgewendet worden, um Afrika tatsächlich aus der Armutsfalle zu befreien. Sachs fordert drei- bis viermal so viel Entwicklungsgelder wie bisher, zwischen 75 und 100 Milliarden Dollar pro Jahr und das etwa zehn Jahre lang. Afrika schafft es nicht allein, meint Sachs. Auch stellt die katastrophale Gesundheitslage des Kontinents für Sachs einen entscheidenden Faktor für die wirtschaftliche Unterentwicklung dar. Sein Rezept lautet: Moskitonetze gegen die Malaria, Hochertragssaatgut gegen die niedrigen Erträge und lokale Brunnen gegen den Wassermangel. Kritiker werfen ihm eine vereinfachte Sicht der Dinge vor. Mit seinem Rezept ließen sich vielleicht einzelne Dörfer voranbringen, nicht aber die Ökonomie eines gesamten Staates sanieren, geschweige denn die eines ganzen Kontinents.

Als eine direkte Folge der Hilfsgelder ist Politik in Afrika inzwischen zu einem lukrativeren Geschäft geworden als die Wirtschaft. Wer heute in Afrika ein Diplom in der Tasche hat, versucht, wenn er nicht ins westliche Ausland geht, einen Weg in die Politik zu finden. Das Ergebnis ist ein Mangel an fähigen Köpfen in der Wirtschaft. Auch sind Strukturen für eine nachhaltige Entwicklung in Afrika immer noch die Ausnahme. Rechtsunsicherheit bei Investitionen, beim Land- und Immobilienerwerb, Binnenzölle zwischen und selbst innerhalb der Staaten, die den Warenverkehr behindern, unrentable Staatsbetriebe und ein aufgeblähter, unbeweglicher Staatsapparat sind in den meisten afrikanischen Ländern Realität. Selbst Wachstumsraten von durchschnittlich fünf Prozent machen wenig Mut, sind sie doch fast ausschließlich auf die Förderung von Rohstoffen zurückzuführen und basieren auf einer niedrigen Ausgangsbasis.

Anfang der 1990er Jahre erregte eine junge Entwicklungsexpertin aus Kamerun, Axelle Kabou, mit ihrer Streitschrift »Weder arm noch ohnmächtig« Aufsehen. Kabou entwickelt in ihrem Buch die These, dass Afrika seine Entwicklung systematisch verweigere. Ihr ungeheurer Vorwurf gilt nicht etwa nur den Eliten, sondern auch dem »ganz normalen Volk, jedem Einzelnen«. Die Ursachen für die Verweigerung sieht Kabou in der traditionellen Denkweise und Werteordnung der Afrikaner, in ihrer von autoritären Vorstellungen geprägten sozialen Kultur und in der Verklärung der vorkolonialen Ära. Entwicklung werde als etwas Fremdes, als »Sache der Weißen« wahrgenommen. Für Kabou sind die Afrikaner »die einzigen Menschen auf der Welt, die noch meinen, dass sich andere um ihre Entwicklung kümmern müssen«. Afrikanischen Unternehmern traut Kabou im Gegensatz zu Shikwati wenig zu. Ihre Bemühungen zielten nur auf schnelle Gewinne ab statt auf Kontinuität und längerfristige Ziele. Kabou fordert einen radikalen Wandel in Kultur- und Bildungspolitik. Für viele Afrikaner, wie etwa Jean Marc Ela, Hochschullehrer und Publizist aus Kamerun, ist die Streitschrift Kabous eine Provokation. Er kritisiert, dass Kabou ihrer Analyse Maßstäbe der modernen Industriegesellschaft zu Grunde lege. Ihre Argumentation ziele auf die Umerziehung eines ganzen Kontinents ab, von einer als entwicklungshemmend angesehenen Kultur zu einer die nach westlichen Maßstäben funktioniere. Kabous Hoffnungen ruhen indes auf einer selbstbewussten afrikanischen Jugend, die nicht gewillt ist, sich weiter den Zwängen von Tradition und Tribalismus zu unterwerfen, die sich nicht in Hoffnungslosigkeit ergibt, sondern eigenverantwortlich nach Perspektiven sucht.

Neuere im Westen entworfene Entwicklungskonzepte gehen den entgegengesetzten Weg. Nicht die afrikanische Gesellschaft soll für die Moderne fit gemacht, sondern die Entwicklungsprogramme der traditionellen Lebensweise der Afrikaner angepasst werden. Kern der Idee ist die Einsicht, dass den kulturellen Gewohnheiten und Traditionen in allen bisherigen Entwicklungskonzepten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Den Menschen vor Ort wurden komplette Fertigungsanlagen übergeben, die sich von allem Vertrauten unterschieden, mit denen sich aber eine westliche Arbeits- und Lebensweise verband. Letztlich wurde die Modernisierung einer Gesellschaft aufgedrängt, die kulturell und psychologisch noch gar nicht dafür bereit war. Für Studenten an den Hochschulen in Ghana spricht aus solchen Überlegungen unverhohlener Rassismus, weil den Menschen in Afrika die Fähigkeit abgesprochen wird, mit moderner Technik umzugehen.

Nirgendwo anders auf der Welt liegen Tradition und Moderne so dicht beieinander und scheinen so unversöhnlich wie in Afrika. Während die Regierungen den Direktiven von IWF und Weltbank folgen und vorbildlich privatisieren und die heimischen Märkte öffnen, steht im ländlichen Afrika der neoliberalen Lehre vom grenzenlosen Wachstum eine traditionelle Ökonomie des Genugseins (target economy) gegenüber. Anders als im Westen wird der Arbeit an sich in vielen afrikanischen Gesellschaften traditionell keine Wertschätzung beigemessen. Die Arbeit wird lediglich auf ein Ziel abgestimmt. Ein Überschuss oder Rücklagen für die Zukunft sind nicht vorgesehen. Dabei hat die Solidarität ein viel stärkeres Gewicht als wirtschaftlicher Erfolg. Wer es zu etwas gebracht hat, ist verpflichtet, mit der Familie, mit dem Clan, mit dem Heimatdorf zu teilen. Was auf den ersten Blick vielleicht Heile-Welt-Assoziationen hervorrufen mag, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ökonomische und auch politische Katastrophe. Zum einen fördert diese solidarische Verpflichtung die Untätigkeit von Individuen, die lieber erfolgreiche Verwandte schröpfen, als selber tätig zu werden, zum anderen wird es unmöglich, Rücklagen für Investitionen anzusparen. Unternehmertum wird somit bereits in den Anfängen von nahen und fernen Verwandten unterdrückt. Wer es in die Politik schafft, ist verpflichtet, seinen Einfluss für die erweiterte Familie geltend zu machen. Vetternwirtschaft wird somit Vorschub geleistet. Wer diese Spielregeln missachtet, aus dem sozialen Gleichheitsgebot ausbricht oder als Politiker sauber bleiben möchte, der muss damit rechnen, aus seinem sozialen Umfeld ausgestoßen zu werden. Vielen Hochschulabsolventen bleibt nichts weiter übrig, als der Familie den Rücken zu kehren und ins Ausland zu gehen, wenn sie es zu etwas bringen möchten.

Entwicklung aus eigener Kraft

Klar ist, dass Entwicklung immer den Willen zur Veränderung voraussetzt. Die Entwicklung Afrikas von außen in Gang zu bringen, von außen zu steuern und zu finanzieren, ist gescheitert. Entwicklung kann nur von innen her funktionieren, wenn die Menschen dazu bereit sind, wenn die grundlegenden Konzepte dort erdacht werden, wo sie wirken sollen. Die Verantwortung dafür liegt bei den politischen Eliten in Afrika, sie müssen die entsprechenden Bedingungen schaffen, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen und nicht behindern. Die Vorzeichen sehen so schlecht nicht aus, rechtstaatliche Strukturen sind auf dem Vormarsch. Aber auch die Menschen in den Städten und Dörfern müssen ihre Verantwortung erkennen und Rechenschaft und mehr Transparenz von den Regierenden einfordern. Und wenn es dem Westen tatsächlich Ernst ist mit seiner Hilfe, dann sollte statt über neue Entwicklungskonzepte vor allem über eine Neuordnung der Handels- und Subventionspolitik nachgedacht werden.

* Aus: Neues Deutschland, 16. November 2007


Zurück zur Afrika-Seite

Zurück zur Homepage