Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nordafrika: Die Lage ist düster und düster sind die Aussichten

Stagnation von Westsahara bis Libyen

Unter der Überschrift "Stagnation von Westsahara bis Libyen - Weil Nordafrika in Stagnation verharrt, wird der Einwanderungsdruck auf Europa wachsen" beschrieb der Afrika-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Rudolph Chimelli, Ende Februar die Lage in den Maghreb-Staaten. Sein düsteres Bild ist sicher zutreffend für die ganze Region - in einzelnen Teilen möchte sich die Situation vielleicht etwas anders darstellen. Chimellis "Horrorvision" von den Flüchtlingsströmen, die sich aus Nordafrika dereinst nach Europa ergießen würden, dürfte irrationalen Ängsten entsprungen sein. Selbst wenn sie eine reale Grundlage haben sollten, wäre doch die Frage zu stellen: Welche Entwicklungschancen hat Nordafrika und welche Verantwortung hat das - insgesamt - reiche Europa gegenüber seinen mediterranen Anrainern?

Man kann auch das Stabilität nennen: Vor genau 25 Jahren hat sich für die ehemals spanische Westsahara, die von Marokko annektiert wurde, die Demokratische Arabische Republik Sahara konstituiert. Etwa so lange warten 80 000 Sahraui-Flüchtlinge in vier Lagern nahe dem algerischen Tinduf auf Heimkehr. Schon vor neun Jahren haben die UN ein Referendum zur Lösung des Konflikts angesetzt, das Marokko indessen erst zulassen wird, wenn ein Ergebnis zu seinen Gunsten sicher ist. Es herrscht Waffenruhe. Aber die Grenze zwischen Marokko und Algerien, das die Polisario-Exilregierung unterstützt, bleibt geschlossen.

Viel besser beschreibt deshalb das Wort Stagnation die Lage - nicht nur in der Westsahara, sondern in ganz Nordafrika, vom Atlantik bis nach Libyen. Das Königreich Marokko, das algerische Militär- und Funktionärsregime, die präsidiale Diktatur Tunesien, der sogenannte Massenstaat des libyschen Revolutionsführers Muammar el Gaddafi sind in ihren inneren Strukturen recht verschieden. Dennoch sind Korrespondenten, die über alle diese Staaten berichten, schon seit Jahren in der misslichen Lage, dass sie immer wieder die gleichen Geschichten schreiben müssen. Nirgends ändert sich etwas Grundsätzliches.

Für Algerien erhoben sich nach der Wahl Präsident Abdelaziz Bouteflikas Hoffnungen auf ein Ende des blutigen Wechselspiels von Terror und Unterdrückung, das nach der Absetzung des Wahlsiegs der Islamischen Rettungsfront FIS im Januar 1992 begann. Doch in bald zwei Jahren ist Bouteflika weder die nationale Versöhnung geglückt noch konnten die ausrottungswilligen Generäle ihre islamistischen Gegner niederkämpfen. Es wird weiter gemordet, während der soziale Druck durch Arbeitslosigkeit, Not und Korruption unverändert ansteigt.

In Marokko knüpfen sich alle Erwartungen an den jungen König Mohammed VI. Er hat am pompösen Protokoll seines Vaters einige Abstriche vorgenommen, den unbeliebten Innenminister Driss Basri abgelöst und die Wiedergutmachung für politische Häftlinge beschleunigt. Entscheidungen über alle wichtigen Frage treffen jedoch weiterhin weder Regierung noch Parlament, sondern ein undurchsichtiges, nur dem Herrscher verantwortliches Machtsystem um den Palast. Die einzig ernsthafte Opposition, die der Islamisten, bewegt sich am Rand der Legalität und des politischen Lebens.

Wirtschaftlich bessere Ergebnisse als die Nachbarn kann der tunesische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali vorzeigen. Umso negativer ist die politische Bilanz. In keinem anderen der entwickelten Maghreb-Länder ist die Unfreiheit so groß, die Gängelung Andersdenkender so lückenlos, die Presse so langweilig gleichgeschaltet. Obwohl eine kleine legale Opposition als Treibhauspflanze existieren darf, ist Tunesien weiter de facto ein Einparteienstaat. Durch die Auslieferung der beiden Angeklagten zum Lockerbie-Prozess und während der Geiselkrise von Jolo hatte der libysche Revolutionsführer Gaddafi zu erkennen gegeben, dass er die Zeit der Ächtung hinter sich lassen will. Zum Treffen der EU-Staaten mit den südlichen Anrainern des Mittelmeers kam er jedoch im November nicht nach Marseille. Der "Club Med" genannte Kreis war für ihn schon wieder unattraktiv geworden.

Noch profitiert Europa von der Scheinstabilität am anderen Ufer. Alljährlich wächst die Bevölkerung jenseits des Mittelmeers um fünf Millionen. Vor allem in den beiden großen Maghreb-Staaten Algerien und Marokko, wo der größere Teil der Einwohner weniger als 25 Jahre alt ist, sind die Zukunftschancen für die Jugend äußerst schlecht. Was aber geschehen kann, wenn die Dämme staatlicher Ordnung brechen, wurde den Europäern durch jene tausend Kurden demonstriert, deren Schiff Mitte des Monats vor Südfrankreich auf Grund ging. Boat People vor Andalusien und Sizilien sind im 21. Jahrhundert mehr als eine Horror-Phantasie.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 28. Februar 2001

Zurück zur Afrika-Seite

Zurück zur Seite "Regionen"

Zurück zur Homepage