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"Berisha tritt entweder jetzt zurück oder nie"

Albaniens Ministerpräsident stützt sich vor allem auf Reiche, Mittelschichten und die Korruption. Ein Gespräch mit Kol Nikollaj *


Kol Nikollaj ist Generalsekretär des albanischen Gewerkschaftsbundes KSSH.

Die albanische Polizei ist am Freitag vor einer Woche in der Hauptstadt Tirana brutal gegen Tausende Demonstranten vorgegangen – drei Menschen wurden erschossen, 30 weitere verletzt. Die Proteste richteten sich in erster Linie gegen Ministerpräsident Sali Berisha – was bringt die Bevölkerung dermaßen gegen ihn auf?

Albanien steckt seit gut einem Jahr in politischen Turbulenzen, die auch mit der schweren Wirtschaftskrise zu tun haben, die der Kontinent seit einiger Zeit erlebt. Berisha konnte sich nach den Parlamentswahlen von 2009 nur mit Hilfe von Manipulationen an der Macht halten. Er regiert nur, weil vier sozialistische Abgeordnete zu ihm übergelaufen sind und dafür ein Fünftel der Regierungsämter erhalten haben.

Wie hat die Sozialistische Partei als wichtigste Oppositionskraft darauf reagiert?

Ihre 64 Abgeordeten haben sechs Monate lang das Parlament boykottiert. Anschließend beschlossen sie, solange nicht über Gesetzentwürfe der Regierung abzustimmen bis Berisha bereit ist, das Wahlergebnis in denjenigen Regionen zu überprüfen, in denen möglicherweise am dreistesten betrogen wurde. Es kam dann ein weiterer Fall von Korruption ans Licht, der allerdings vom Fernsehen dokumentiert wurde: Ein Videofilm, der Vizepremier und Wirtschaftsminister Ilir Meta bei dem Versuch zeigt, die Ausschreibung für den Bau eines Wasserkraftwerks zugunsten eines Bewerbers zu manipulieren. Zuvor schon hatte die Opposition die Justiz in drei Fällen gezwungen, Ermittlungsverfahren zu ähnlichen Korruptionsfällen einzuleiten.

Sie haben an der erwähnten Demonstration selbst teilgenommen. Wie lief der Polizeieinsatz ab?

An diesem Freitag waren viele Leute auf der Straße, vor allem Arbeiter und Arbeitslose, aber auch Intellektuelle und Journalisten – kurz gesagt: die Zivilgesellschaft. An der Spitze marschierten wir vom Gewerkschaftsbund. Die Demonstration war zunächst friedlich, artete dann aber aus, als die Polizei begann, Tränengas zu verschießen. Da die Polizisten aber selbst keine Gasmasken hatten, übernahm die Republikanische Garde – eine Eliteeinheit des Militärs – ihre Rolle. Irgendwann wurden Schüsse in die Luft abgegeben, was die Demonstranten in Rage brachte. Einige von ihnen warfen mit Pflastersteinen Fenster des Palastes ein, worauf die Garde in die Menge schoß und drei Menschen tötete. Hinterher hieß es, sie seien durch Querschläger umgekommen. Aufgebracht über die Toten, stürmten die Demonstranten den Regierungssitz und steckten etwa 15 Autos in Brand, zum großen Teil Polizeifahrzeuge.

Wie wird sich die Opposition – ob innerhalb oder außerhalb des Parlaments – nun verhalten? Eine Demonstration, die Berisha unterstützen sollte, wurde erst einmal mit der Begründung abgesagt, die internationale Gemeinschaft befürchte eine Eskalation der Lage.

Meines Erachtens wird Berisha alles tun, um Bevölkerungsteile gegeneinander aufzuhetzen. Hinter ihm stehen die Reichen und die Mittelschichten. Außerdem zieht er seinen Nutzen aus der Korruption. In den vergangenen Jahren hat er die neoliberale Politik forciert, die Überweisungen der Arbeitsmigranten sind zurückgegangen, die Albaner wurden immer ärmer. Ausländische Investitionen gibt es kaum – auch weil keine politische Stabilität herrscht.

Welche Alternativen fordert Ihre Gewerkschaft?

Notwendig ist die Wiederbelebung der öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur sowie die Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen und des Agrarsektors. Wir brauchen eine massive Verbesserung der Wasserwirtschaft, auch wegen der enormen Überschwemmungen, die Albanien erlebt hat.

Was sagen Sie zu den Bestrebungen, Albanien in die EU aufzunehmen?

Heute wird in Europa eine offen neoliberale Politik gemacht, deshalb sind wir dagegen. Sobald sich der Wind dreht und Europa sozial wird – was hoffentlich so bald wie möglich geschieht – kann Albanien durchaus Mitglied der EU werden.

Denken Sie, daß der Ministerpräsident zurücktritt?

Berisha tritt entweder jetzt zurück oder nie.

Eine Langfassung dieses Interviews erschien zuerst in der linken italienischen Tageszeitung il manifesto am 23. januar 2011.

Interview: Sergio Sinigaglia

* Aus: junge Welt, 28. Januar 2011


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