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Algerien feiert Unabhängigkeit

FLN-Regierung verweist angesichts aktueller Probleme auf antikolonialen Kampf

Von Sofian Philip Naceur, Kairo *

Am 5. Juli 1962 erlangte Algerien nach 132jähriger Kolonialherrschaft seine Unabhängigkeit. Jahr für Jahr wird der Unabhängigkeitstag mit viel Getöse zelebriert, während sich Frankreich die Wunden leckt. Das Militärregime in Algier bezieht 50 Jahre nach der Vertreibung der Kolonialmacht seine Legitimation einzig aus dem Krieg gegen Frankreich, eine staatlich verordnete Erinnerungspolitik ist die Folge. Alljährlich finden im ganzen Land Paraden, Konzerte und Großveranstaltungen statt, das Staatsfernsehen sendet ununterbrochen Spielfilme und Dokumentationen über den Aufstieg der Nationalen Befreiungsfront (FLN) zur Staatspartei.

Doch das Regime um den seit 1999 amtierenden Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika (FLN) ist korrumpiert und hat wirtschafts- und sozialpolitisch wenig vorzuweisen. Industrie und Landwirtschaft liegen am Boden, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Dennoch schwimmt das Land aufgrund des hohen Weltmarktpreises für Erdöl im Geld, viel sickert davon aber nicht an die Bevölkerung durch.Der islamistische Terror der 1990er Jahre nach dem Wahlsieg der Islamisten 1991 und dem darauf folgenden Putsch ermöglichte es Militär und FLN, die Legitimität ihrer Herrschaft zu erneuern.

Selbst den Arabischen Frühling hat das Regime überstanden. Aus den manipulierten Parlamentswahlen im Mai ging der FLN gestärkt hervor und bewahrt den demokratischen Schein. Bouteflikas Herrschaft hat sich abgenutzt, er gilt als bloße Marionette der Militärs. Von 1963 bis 1979 war er Außenminister und gehört damit zur alten Garde, er ist das Symbol des elitären und korrupten Staatsapparats.

Der europäische Kolonialismus in Nordafrika fand mit Algeriens Unabhängigkeit sein jähes Ende, doch die Brutalität des Krieges ließ die Gräben zwischen Paris und Algier offen. Frankreich hat den Verlust seiner wichtigsten Kolonie nie verwunden. Die algerische Siedlungskolonie galt als elementarer Teil des Mutterlandes. Die arabische Bevölkerung wurde enteignet und galt vor dem Gesetz als minderwertig. Algier-Franzosen stellten nie mehr als zehn Prozent der Bevölkerung, kontrollierten Staat und Wirtschaft jedoch nach Belieben. Proteste der algerischen Bevölkerung wurden brutal niedergeschlagen, vor allem nach Ausbruch des Krieges 1954.

Die FLN, die sich bis heute ununterbrochen an die Macht klammert, beendete 1962 eine Ära der kolonialen Ausbeutung. Nach 1962 gewannen rasch die Militärs Oberhand in der Organisation, der Staatsstreich unter Verteidigungsminister Houari Boumedienne 1965 besiegelte die dauerhafte Kontrolle des Staates durch die Armee. Heut spielt das vom Westen als Bollwerk gegen Al-Qaida hochgerüstete FLN-Regime eine Schlüsselrolle im algerischen Machtgefüge, doch im Hintergrund ziehen die Generäle die Fäden.

Auch Frankreich spürt die Folgen des Algerienkrieges bis heute. Französische Schulbücher betonen nach wie vor die positive Rolle des Kolonialismus, die Folterpraktiken der französischen Armee werden hingegen ignoriert. 1958 putschten die in Algerien stationierten Generäle, stürzten die IV. Republik und brachten Charles de Gaulle an die Macht. Als dieser das Ende der »Algérie française« verkündete, formierte sich mit der »Organisation der Geheimarmee« (OAS) eine den Siedlern nahestehende faschistische Terrorgruppe, die mit allen Mitteln versuchte, den Verlust Algeriens abzuwenden.

Eine Million Algier-Franzosen verließen 1962 das Land, auch wegen des Zorns der algerischen Bevölkerung gegenüber den alten Unterdrückern. Die meisten ließen sich in Südfrankreichs nieder und begründeten den bis heute den starken Einfluß des rechtsextremen Front National in der Region. Während Algeriens Regime aus Legitimitätsgründen bis heute die Vergangenheit betont, speist sich die französische Rechtsextreme nach wie vor aus der aus der alten Kolonie vertriebenen Klientel. Auch künftig ist mit einer Aussöhnung nicht zu rechnen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 5. Juli 2012


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