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Amnestie soll Terror in Algerien beenden

Präsident Bouteflika will einen Schlussstrich ziehen – und findet viele Kritiker

Von Abida Semouri, Algier*

Durch eine Generalamnestie will Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika das dunkle Kapitel des Terrorismus endgültig abschließen.

Der vor 15 Jahren ausgebrochene blutige Konflikt zwischen islamistischen bewaffneten Gruppen und der Staatsmacht hat vor allem in den 90er Jahren mindestens 200.000 Tote gefordert. Nachdem Präsident Bouteflika das nordafrikanische Land aus der jahrelangen internationalen Isolierung geführt und die Wirtschaft auf Erfolg versprechende Wege gelenkt hat, wäre das Ende des Terrors für ihn die innenpolitische Krönung seiner bisher sechsjährigen Amtszeit. Noch vor Jahresende will er die algerische Bevölkerung darüber per Referendum abstimmen lassen. Obwohl außer einer allgemeinen Absichtserklärung des Staatschefs noch nichts über den konkreten Inhalt des Projekts bekannt ist, hat die Debatte bereits begonnen.

Unterstützung erhält Bouteflika erwartungsgemäß von seinen Verbündeten in der »Präsidialallianz«, einem Parteienbündnis aus der national-konservativen Nationalen Befreiungsfront (FLN), der aus ihr hervorgegangenen Nationaldemokratischen Sammlungsbewegung (RND) und der islamistischen Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens (MSP). Rückendeckung hat er sich auch von den traditionell staatsloyalen muslimischen Bruderschaften und historischen Persönlichkeiten wie dem ehemaligen Staatschef Ahmed Ben Bella geholt.

Allerdings lässt eine Gruppe der Amnestie-Befürworter nicht wenigen Algeriern einen kalten Schauer über den Rücken laufen: die ehemaligen Untergrundkämpfer der Islamischen Armee des Heils (AIS). 6000 Mann des bewaffneten Flügels der seit 1991 verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS) hatten bereits 1999 im Zuge einer ersten Amnestie die Waffen niedergelegt. Damit war aber nur ein Teil der durch Vermittlung Bouteflikas zwischen ihnen und den Militärs ausgehandelten Abmachung erfüllt worden. Denn anders als versprochen, blieben auch Mörder und Vergewaltiger straffrei. So sorgte der Auftritt des früheren AIS-Chef Madani Mezrag in der vergangenen Woche für einiges Aufsehen: Bei einem Amnestie-Meeting im ostalgerischen Constantine sprach er unter dem Jubel zahlreich erschienener ehemaliger Mitkämpfer mit religiösen Parolen jedem Algerier das Recht ab, gegen das Präsidentenprojekt zu stimmen.

Mancher im Saal fühlte sich in die Zeit zurückversetzt, als die FIS mit ihren religiösen Hasstiraden die Menschen gegeneinander aufhetzte und in die Tragödie trieb. »Die Debatte um die Amnestie wird vor allem von Vertretern der FIS dominiert, die auf diese Weise durch die Hintertür wieder zurück auf die politische Bühne kommt«, kommentierte die Tageszeitung »La Tribune«. »Mit religiösen Argumenten wurden auch Terrorismus, Verbrechen, Vergewaltigung und Plünderung gerechtfertigt«, erinnerte das Blatt und bedauerte zugleich, dass die demokratischen Parteien das Feld den Islamisten überlassen.

Die von der Tragödie direkt Betroffenen lassen sich jedoch nicht zum Schweigen bringen. So erheben die Angehörigen der von Sicherheitskräften und Terrorgruppen Verschleppten gemeinsam ihre Stimme gegen die befürchtete Straffreiheit für die Verantwortlichen ihres Unglücks. Von den etwa 18000 von den Sicherheitskräften Verschleppten erkennt der Staat gerade ein Drittel an, fühlt sich aber laut seinem Sonderbeauftragten Farouk Ksentini »aus Mangel an Beweisen außer Stande, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen«. Der Staat sei verantwortlich, aber nicht schuldig, lautet die Begründung.

Für die von Terroristen Verschleppten, deren Zahl von Menschenrechtsorganisationen auf mehr als 10000 geschätzt wird, fühlt sich indes überhaupt niemand verantwortlich. Der Vorsitzende der Vereinigung »Somoud« (Schweigen), Ali Merabet, kritisiert, dass nicht einmal den Behörden bekannte Massengräber geöffnet und die sterblichen Überreste identifiziert werden. Beide Opfergruppen sehen sich daher als Verlierer der geplanten staatlich sanktionierten generellen Straffreiheit. Auch der Anwalt und Menschenrechtler Mokrane Ait Larbi sieht grundlegende Voraussetzungen für eine Amnestie nicht erfüllt. »Zuerst müssen die Terroristen für ihre Verbrechen verurteilt werden, ebenso Angehörige der Sicherheitskräfte, wenn sie für Entführungen, Folter und Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil verantwortlich sind. Zudem müssen Befürworter wie Gegner Gelegenheit bekommen, ihre Meinung frei zu vertreten. Die ehemalige FIS sollte sich öffentlich entschuldigen. Erst dann kann das Volk über eine Generalamnestie entscheiden.«

* Aus: Neues Deutschland, 8. Juni 2005


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