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Schlussstrich von oben

Referendum in Algerien: Verbrechen sollen unter Generalamnestie fallen

Von Bernhard Galichon

In Algerien läßt das autoritäre Regime Bouteflikas heute [29. September 2005] ein umstrittenes Referendum »für Frieden und Versöhnung« abhalten. Verbrechen, die während des Bürgerkriegs in den 90er Jahren begangen worden sind, sollen künftig unter eine Generalamnestie fallen.

»Das Quaken von Fröschen« nannte Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika vor kurzem abschätzig die Äußerungen von Kritikern des Referendums, das die Führung in Algier am heutigen Donnerstag abhalten läßt. Gegenstimmen sind nicht vorgesehen im Konzert: Beim Volksentscheid wird ein einstimmiges Ergebnis angestrebt. Aus den offiziellen Medien wie dem einzigen Kanal des algerischen Fernsehens, ENTV, ergießt sich ein wahrer Propagandastrom über die Bevölkerung, die dem Geschehen größtenteils apathisch beiwohnt. »Die Bürger haben das Dokument nicht gelesen«, berichtete die bürgerlich-nationalistische Tageszeitung El Watan vor zwei Wochen auf ihrer Titelseite.

»Das Dokument«, das den Teilnehmern des Referendums zur Abstimmung vorgelegt wird, ist die sogenannte »Charta für den Frieden und die nationale Versöhnung«. Oberflächlich betrachtet, mag es sich dabei um hehre idealistische Anliegen handeln. Die Wirklichkeit sieht dagegen ziemlich prosaisch aus: Es handelt sich um einen staatlich verordneten Schlußstrich unter den Großteil der Verbrechen, die – von verschiedenen Seiten – während des algerischen Bürgerkriegs der Jahre 1993–1999 und danach begangen worden sind.

Um die Ereignisse richtig vor ihrem historischen Hintergrund bewerten zu können, soll daher im folgenden zunächst ein kurzer Rückblick auf die Bürgerkriegsperiode in Algerien geworfen werden. Im Anschluß daran wird es um die konkreten Bestimmungen des »Schlußstrich«-Gesetzes, aber auch um die ihm vorausgegangenen Amnestieverordnungen gehen.


»Marx ist tot, Mohammed lebt«

Der algerische Bürgerkrieg ist einer der wohl blutigsten Konflikte jener Ära, die mit dem weltweiten Epochenwechsel 1989/91 – Stichworte: Zusammenbruch der Staaten des real existierenden Sozialismus und Ende der bipolaren Ordnung – begann. Er hinterließ 150000, vielleicht 200000 Tote.

Die Ausgangssituation dieses Konflikts ist für die nach 1989 zunächst entstandene »neue Ordnung« nicht untypisch. In einer Welt, in der sozialistische und solidarische Alternativen vermeintlich gestorben waren und nur noch Konfession, Nation oder »Rasse« sich als schützende Zuflucht gegen die mörderische kapitalistische Konkurrenz anzubieten schienen, setzten auch in Algerien viele Menschen ihre Hoffnung auf die politisch-religiöse Karte. Der Chefideologe der 1989 entstandenen »Islamischen Errettungsfront« (FIS), Ali Belhadsch, gab dieser Stimmung Ausdruck, als er erklärte: »Der Kommunismus ist tot«, nur der Islam bleibe noch als Herausforderung für den entfesselten Liberalismus übrig. Marx ist tot, und Mohammed lebt ...

Der radikale politische Islam war in dem Maghrebstaat freilich schon früher entstanden: in seinem harten Kern zunächst als Rechtsopposition gegen die sozialistische Option, die die regierende Nationale Befreiungsfront (FLN) verfolgte. Klerikale und reaktionäre Kreise bekämpften damals, im Namen der »Gebote Gottes« und der Anerkennung des Eigentums durch den Koran, die antifeudale Bodenreform unter Präsident Houari Boumedienne (1965–1978). Dessen Nachfolger, die sich bereits vom offiziell noch proklamierten Sozialismus zu verabschieden begannen, hätschelten diese Rechtsopposition selbst heran. Dabei ging es zunächst darum, den Einfluß von Marxisten in den Armenvierteln und an Universitäten einzudämmen – auch durch physische Gewalt. Doch bald schon begann die Bewegung dem Regime über den Kopf zu wachsen und unkontrollierbar zu werden, da sie bei Teilen der verarmenden städtischen Bevölkerung Unterstützung fand – nicht so sehr wegen ihrer Programmatik, sondern weil man hoffte, sie werde die Macht der korrupten Eliten herausfordern. Der algerische politische Islam, obwohl eindeutig konterrevolutionären Ursprungs, trat so an die Stelle einer sozialrevolutionären Bewegung. Den linken Alternativen schien es an Gewicht zu fehlen, auch, weil sie mit dem Niedergang der Staaten in Osteuropa identifiziert wurden.

Die FIS gewann im Dezember 1991 den ersten Wahlgang der Parlamentswahlen und war auf dem besten Wege, die Regierungsmacht für sich zu beanspruchen. Doch die regierende Oligarchie in Algerien (Teile der bisherigen Staatsbürokratie, eine sich neu herausbildende Bourgeoisie und die führenden Militärs) war über die Frage des Umgangs mit dem politischen Islam gespalten. Innerhalb der Oligarchie gab es zwei dominierende Clans. Der eine vertrat die Auffassung, es sei unverantwortlich, die radikalen Islamisten an die Macht zu lassen: Sie würden sich mit Zugeständnissen und einer Machtteilung niemals zufriedengeben, zumal sich ihre Anhängerschaft aus Unzufriedenen und Hungerleidern zusammensetzte, die nicht ohne weiteres ruhigzustellen wären. Der andere Clan meinte hingegen, der Islamismus habe immer noch einen sozial konservativen Kern und könne deswegen als »Ordnungsfaktor« in die politischen Geschäfte eingebunden werden; er müsse aber seine unruhige Basis stillhalten. Damals hielt Frankreich eher zur ersten Gruppe, die US-Führung – die über ihren traditionellen Alliierten Saudi-Arabien Kontakt zur FIS hielt – anfänglich zur zweiten. In Algerien gelang es beiden Clans, im Zuge einer künstlichen Polarisierung zwischen diesen beiden reaktionären Herrschaftsoptionen, den größten Teil der politischen Kräfte an sich zu binden. Nur ein Teil der gespaltenen algerischen Ex-Kommunisten und die PST, eine der beiden trotzkistischen Parteien, mochten sich keiner der beiden Seiten anschließen.

Die französischsprachigen Mittelschichten und ihre Parteien, aber auch jener Teil der algerischen Ex-Kommunisten, der jede Sozialkritik zugunsten einer alleinigen Gegnerschaft zum politischen Islam als »akuter faschistischer Gefahr« aufgegeben hatte, hielten zu der Fraktion der Oligarchie, die der FIS den Weg versperren wollte. Man nannte diesen Block ab 1992 den der »Eradicateurs« (jene, die den Islamismus »mit der Wurzel ausreißen« wollen). Auf der anderen Seite schlossen sich verschiedene politische Kräfte, darunter ein Großteil der ehemaligen Staatspartei FLN und die sozialdemokratische Berberpartei FFS (Front der sozialistischen Kräfte), dem Clan der »Réconciliateurs« oder »Versöhnler« an. Diese Fraktion innerhalb der Oligarchie plädierte für die Einbindung der Islamisten ins Regierungsgeschäft.

Jener Teil der Armee, der zu den »Eradicateurs« hielt und die Islamisten sowie den anderen Flügel der Oligarchie von der Macht fernhalten wollte, konnte sich im Januar 1992 durchsetzen. Die Wahlen wurden vor dem entscheidenden zweiten Durchgang abgebrochen. Der FIS war damit der »parlamentarische Weg zum Gottesstaat« verbaut. Daraufhin kam es nun zur bewaffneten Konfrontation. Es stimmt freilich nicht, daß die Islamisten sich erst aus Protest gegen den Abbruch der Wahlen bewaffnet hätten, vielmehr hatten sie schon Jahre zuvor paramilitärische Gruppen gebildet. Diese bestanden namentlich aus den Aktivisten, die vom Kriegsschauplatz Afghanistan zurückkehrten, wo sie in den 80er Jahren gegen die sowjetische Armee gekämpft hatten.

So kam es ab 1992 zur Konfrontation, die sich aber erst ein Jahr später zu einem grausamen Bürgerkrieg ausweitete; es handelte sich jedoch nicht einfach um eine Frontstellung zwischen der FIS im Untergrund, die im März 1992 verboten worden war, und den Staatsorganen. Die Situation war weitaus komplizierter. Denn auf seiten der gegen die »gottlose« Staatsmacht kämpfenden Islamisten wurden schon früh viele sozial marginalisierte, junge Männer mobilisiert, die sich alsbald in kaum kontrollierbaren Kleingruppen zusammenschlossen. Letztere operierten, anders als die Organisationen des politischen Islam rund um die ehemalige FIS, schon früh auf eigene Faust. Für solche Gruppen und Grüppchen bildete die islamistische Ideologie oft nur eine Rechtfertigung für eine Praxis, die im Kern aus Raub und Erpressung bestand und sich dabei auf den Autoritätsanspruch eines »göttlichen Willens« berief. Diese Raubökonomie konnte sich als quasi spontan entstehendes Phänomen etablieren, nachdem der algerische Staat – infolge der Schuldenkrise, die ab Ende der 80er Jahre akut wurde – jedenfalls in seinen sozialen Funktionen weitgehend zusammengebrochen war.

Eine Reihe von bewaffneten Gruppen und Banden, deren gefürchtetste die besonders gewalttätigen »Groupes islamiques armés« (GIA) bildeten, lebten auf diese Weise vorwiegend von der Ausplünderung der Zivilbevölkerung. Im Gegensatz zu manchen anderen nationalen Spielarten des politischen Islam, die sich zwar ebenfalls auf eine reaktionäre Ideologie berufen, sich aber in den Augen der Bevölkerung durch die Beteiligung am Widerstandskampf gegen Frankreich als Besatzungsmacht (1954–1962) bewähren mußten, kämpfte der algerische Islamismus damit schnell auch gegen die algerischen Massen selbst. Einige »politische« Islamisten haben dies im Laufe des Bürgerkriegs als Problem erkannt. Aber da war es bereits zu spät.

Abfolge von Amnestiegesetzen

Die unmittelbar der FIS zugeordneten bewaffneten Kämpfer, die sich ab 1994 zur zentralisierten »Islamischen Errettungsarmee« AIS zusammengeschlossen hatten, gaben ihren Kampf deswegen ab 1998–99 auf. Darum entstand damals auch für die Staatsmacht der Bedarf nach Amnestieregelungen, um ihnen entgegenkommen zu können. Innerhalb der AIS reifte die Einsicht, daß an eine erfolgreiche Eroberung der politischen Macht vorerst nicht mehr zu denken war: Die verarmten Massen, die dereinst in der FIS einen Hoffnungsträger erblickt hatten, hatten sich inzwischen abgewendet. Nur noch vorwiegend kriminelles Eigeninteresse verfolgende oder aber vollständig fanatisierte Gruppen, unter ihnen die Reste der – in den letzten Jahren großenteils durch die Staatsorgane zerschlagenen – GIA, setzten ihren Kampf später fort. Davon sind heute noch rund 1000 Bewaffnete übriggeblieben, die vor allem in einigen ländlichen Zonen Ostalgeriens die örtliche Bevölkerung terrorisieren und ihr materielle Unterstützung abpressen.

Ab 1999 änderte sich die politische Logik der algerischen Staatsmacht. Der heutige Präsident Abdelaziz Bouteflika kam, nachdem er durch die Mehrheitsfraktion der Armee an die Macht gerufen worden war, im April jenes Jahres ins Amt.

Bouteflika hat die vorher kollektiv ausgeübte Macht der Armeeführer weitgehend zugunsten eines auf seine Person zugeschnittenen Präsidialregimes zurückgedrängt. Dieses steht für einen typisch bonapartistischen Führungsstil. Es ist auf den Anspruch begründet, die im Bürgerkrieg zerrissene Nation unter einem »starken Mann«, der über den sozialen Kräften und über den ideologisch zerstrittenen Parteien steht, erneut zu einen. Gleichzeitig ist seit Beginn der »Bouteflika-Ära« der alte Gegensatz zwischen den beiden politischen Clans der Oligarchie, »Eradicateurs« und »Réconciliateurs«, nunmehr definitiv überwunden. Die früher aufgeworfene Frage, ob man die Islamisten als einen die Herrschaft destabilisierenden oder vielmehr stabilisierenden Faktor betrachten müsse, stellt sich nämlich in dieser Form nicht mehr. Denn sie sind der Staatsmacht im Laufe des Bürgerkriegs erkennbar unterlegen und können die Herrschaft der algerischen Oligarchie nicht mehr ernsthaft gefährden. Einige Vertreter des politischen Islam (in Gestalt kleinerer legaler Parteien) sind deshalb auch seit den späten 90er Jahren, als Juniorpartner der dominierenden Fraktionen der Oligarchie, in die Regierungskoalition integriert worden.

Bei seinem Amtsantritt profitierte der neue Präsident von der Entspannung der innenpolitischen Situation, denn der offene Bürgerkrieg ging seinem Ende entgegen. Dabei hat Bouteflika, der sich dies als persönlichen Erfolg anrechnen ließ, von Anfang an den algerischen Massen ihren eigenen Sieg entrissen. Denn die Ergebnisse des algerischen Bürgerkriegs sind zu einem großen Teil ihnen zu verdanken. Auf der einen Seite hat jener Teil der Bevölkerung, der vor zehn bis 15 Jahren in den Islamisten eine »sozial gerechtere« Alternative sehen wollte, dieser politischen Kraft im Verlauf des Bürgerkriegs den Rücken gekehrt und ihr die materielle Unterstützung entzogen. Dies vor allem aufgrund der Massenmorde der GIA, die sich eine widerstrebende Bevölkerung notfalls durch Terror und Einschüchterung unterwerfen wollten. Nicht alle Formen des politischen Islam in Algerien können indes dafür verantwortlich gemacht werden. Dennoch wurden die Massen dadurch abgeschreckt, zumal auch ehemalige FIS-Führungsmitglieder Kommando-Positionen in diesen autonom agierenden Gruppen einnahmen, wie etwa Mohammed Said, der GIA-Oberbefehlshaber in den Jahren 1994/95.

Auf der anderen Seite wurden die reaktionären terroristischen Kerne, wie die GIA, nicht in erster Linie durch die algerische Armee besiegt, sondern durch die Selbstbewaffnung von über 150000 Algeriern, die sich in Organisationen wie den GLD (Groupes de légitime défense, Selbstverteidigungsgruppen) zusammenschlossen. Zwar haben diese Gruppen auch Karrieristen angezogen, die es vor allem auf den angebotenen Sold abgesehen hatten und – nachdem sie Waffen erhalten hatten – andere Bürger terrorisierten oder private Rechnungen beglichen. Allgemein betrachtet handelte es sich jedoch um ein massenhaftes Phänomen von Selbstschutz und Gegenwehr gegen den reaktionären Terror. Während sich, auf dem Höhepunkt des massenmörderischen GIA-Terrors um 1997, die Militärs in ihren Kasernen verkrochen und den vom Tode bedrohten Bürgern oft nicht zu Hilfe kamen, wurden Zehntausende Zivilisten, spärlich bewaffnet, selbst aktiv.

Präsident Bouteflika konnte auf diesen Sieg aufbauen. Um seinen Status als »nationaler Einiger« zu festigen, brachte er das erste Amnestiegesetz auf den Weg, über das er am 16. September 1999 abstimmen ließ und das er als Garantie für den Frieden verkaufte. Damals konnte er gewiß sein, daß fast niemand gegen seine Vorlage stimmen würde, da kaum ein Algerier für eine Verlängerung des Bürgerkriegs war. Nach offiziellen Angaben – die staatlichen Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen – stimmten über 98 Prozent in jenem Jahr für die Concorde civile, die »innere Eintracht«.

Damals wurde den bewaffneten Islamisten unter bestimmten Bedingungen Straffreiheit in Aussicht gestellt – aber nur unter der Voraussetzung, daß sie innerhalb einer sechsmonatigen Frist die Waffen niederlegen. Ausgenommen bleiben sollten aber diejenigen, die persönlich an Massakern, Bombenanschlägen auf öffentlichen Plätzen, Morden oder Vergewaltigungen teilgenommen hatten. Da das Amnestiegesetz keine Prozesse gegen die Betreffenden vorsah, konnten die für Verbrechen an der Zivilbevölkerung Verantwortlichen so gut wie nie ermittelt werden.

Ein persönliches Plebiszit

Das diesjährige Amnestievorhaben geht in mehrerlei Hinsicht über das damalige Angebot hinaus. Erstens bezieht es erstmals auch eine Regelung für jene Opfer mit ein, die nicht durch die bewaffneten Islamisten, sondern durch die Staatsorgane auf außergesetzliche Weise getötet wurden. Der algerische Staat räumt mittlerweile selbst die Zahl von fast 6200 »Verschwundenen« ein – wenngleich er darauf besteht, sofern diese wirklich durch Mitglieder von Staatsorganen verschleppt und getötet worden seien, so hätten diese nur individuell gehandelt. Den Angehörigen dieser »Verschwundenen« werden im Rahmen der von oben angeordneten »Versöhnung« jetzt finanzielle Entschädigungszahlungen angeboten. Damit sind viele der betroffenen Familien jedoch höchst unzufrieden, da mit der Entschädigung die Einstellung jeglicher Strafverfolgung einhergehen soll. Weder sollen Verantwortlichkeiten festgestellt noch Aufklärung über das tatsächliche Schicksal der »Verschwundenen« geleistet werden.

Den ehemals und den noch bewaffneten Islamisten ihrerseits wird ein neues, jetzt unbefristetes Amnestieangebot unterbreitet. Es steht lediglich fest, daß die Amnestie auch dieses Mal nicht für die Urheber von Massakern, Bombenanschlägen gegen Zivilisten und Vergewaltigungen gelten soll; dafür müßten die Täter aber erst einmal ermittelt werden. Morde werden in dem Gesetzentwurf jetzt nicht mehr erwähnt. Damit können die Urheber der gezielten Tötungen von Kommunisten, Intellektuellen und Frauenrechtlerinnen nun auch offiziell straffrei ausgehen. Ansonsten heißt es in der Abstimmungsvorlage lapidar: »Das Volk vertraut dem Präsidenten, der die notwendigen Maßnahmen ergreifen wird.« Dieser Schlußsatz der »Charta« faßt im übrigen sehr gut den Geist des ganzen Referendums zusammen. Denn mit ihm will sich das Staatsoberhaupt vor allem ein neues persönliches Plebiszit gönnen und seine Rolle als »überparteilicher, nationaler Einiger« festigen. Bouteflika will noch mehr Macht an sich ziehen und diese dazu benutzen, die bereits begonnene wirtschaftliche »Liberalisierung« verstärkt fortzusetzen und ehemalige Errungenschaften der sozialistischen Periode zu schleifen.

Dieses Mal gibt es bereits mehr Proteste gegen das Referendum als 1999, da das algerische Volk damals noch größtenteils von Terror und Gegenterror gelähmt war. Sowohl Überlebende des islamistischen Terrors als auch die Angehörigen von »Verschwundenen« protestieren dagegen, daß ihre Interessen oder das Andenken an ihre Opfer unter den Tisch fallen. Die Ex-Kommunisten der kleinen MDS (Soziale und demokratische Bewegung) etwa plakatieren Aufrufe für einen Boykott des Referendums, in dem sie einen Persilschein für reaktionäre Terroristen erblicken. Mehrere ihrer Mitglieder wurden deswegen inhaftiert und mißhandelt. Auch gegen Familienangehörige von »Verschwundenen« gab es Knüppeleinsätze der Polizei in algerischen Großstädten wie Oran und Constantine. Doch in den Staatsmedien kommt keiner der Kritiker zu Wort.

Alles in allem wird mit einer »überwältigenden« Mehrheit für die Abstimmungsvorlage gerechnet, allerdings bei einer niedrigen Beteiligung am Referendum. Es gibt eine Reihe von Aufrufen zum Boykott. Niemand ruft jedoch dazu auf, teilzunehmen und mit Nein zu stimmen, da dies nach Ansicht der Kritiker der Abstimmungsfarce nur Legitimität verschaffen würde.

* Aus: junge Welt, 29. September 2005


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