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Kabylen sehen sich zwischen den Fronten

Algeriens Berber kämpfen seit 30 Jahren um die Anerkennung ihrer Sprache und ihrer Kultur

Von Abida Semouri, Algier *

Am Dienstag (20. April) jährt sich in Algerien zum 30. Mal der »Berberfrühling«. Mit Konferenzen, Konzerten und Theateraufführungen wird eine Woche lang an den Beginn der Protestbewegung der Kabylen erinnert, die etwa ein Drittel der Bevölkerung des nordafrikanischen Landes ausmachen.

Die eigentlichen Ureinwohner Nordafrikas fordern bis heute die Anerkennung ihrer kulturellen Identität und die offizielle Gleichstellung ihrer Sprache Tamazigh mit dem Arabischen. Auslöser der ersten Unruhen war im Jahr 1980 das Verbot einer Konferenz des kabylischen Schriftstellers Mouloud Mammeri an der Universität der Stadt Tizi Ouzou. Die aufgebrachten Studenten hatten darauf mit Demonstrationen und Streiks reagiert, denen sich rasch die gesamte Bevölkerung der östlich der Hauptstadt Algier gelegenen Bergregion angeschlossen hatte.

Die von der Zentralregierung angeordnete gewaltsame Niederschlagung forderte zahlreiche Verletzte und Verhaftete. Seitdem kam es immer wieder zu Unruhen. Erst der gewaltsame Aufstand von 2001, bei dem 126 Jugendliche von Sicherheitskräften erschossen worden waren, führte zu einigen Zugeständnissen des Staates. So ist Tamazigh inzwischen zumindest als nationale Sprache anerkannt und darf an den Schulen in der Kabylei gelehrt werden. Außerdem strahlt das Staatsfernsehen seit zwei Jahren ein kabylisches Programm aus.

Allerdings harren die meisten Vereinbarungen, die vor neun Jahren zwischen der Regierung und Bürgervertretern der Aufständischen ausgehandelt worden waren, nach wie vor ihrer Umsetzung. So sind zwar die Gendarmen, die für die Ausuferung der Gewalt verantwortlich gemacht wurden, aus der Kabylei abgezogen und durch Polizei ersetzt worden. Indes wurden die Schuldigen für die Morde immer noch nicht zur Rechenschaft gezogen.

Zudem bleibt ein weiteres Problem ungelöst: Die überwiegend bergige Region gehört zu den wirtschaftlich am wenigsten entwickelten, aber mit 1,4 Millionen Einwohnern am dichtesten besiedelten Gegenden Algeriens. Darin sieht der Wirtschaftswissenschaftler Amar Derriche aus Tizi Ouzou eine tickende Zeitbombe: »Da es hier an Investitionen fehlt, gibt es praktisch auch keinen Arbeitsmarkt. Die Beschäftigungsrate ist hier im Vergleich zu anderen Regionen geradezu verschwindend gering. Aber der algerische Staat misst dem keinerlei Bedeutung bei. Die meisten Jugendlichen haben bislang von dem Geld gelebt, das ihnen ihre Verwandten vor allem aus Frankreich geschickt haben.« Angesichts der Wirtschaftskrise versiege jedoch diese Quelle zusehends.

Um Arbeitsplätze zu schaffen, müssten daher vor allem kleine und mittlere Unternehmen in der Industrie gefördert werden. Nach Ansicht Derriches könnte auch der Tourismus die Region voranbringen. »Hier bieten sich sehr viele Möglichkeiten mit Bergen, Wald und den Küsten mit ihren wunderbaren Stränden. Wegen ihrer kulturellen Besonderheiten und politischen Situation interessieren sich immer mehr Menschen auch jenseits der Landesgrenzen für die Kabylei», stellt der Ökonom fest.

Allerdings werden wirtschaftliche Entwicklung und Tourismus bereits seit mehreren Jahren nicht zuletzt durch die instabile Sicherheitslage behindert. Islamistische Untergrundkämpfer haben sich in die schwer zugängliche und nahezu unkontrollierbare Region zurückgezogen und verüben von dort aus ihre Anschläge.

Die staatlichen Sicherheitskräfte bemühen sich nur halbherzig darum, der Situation ein Ende zu bereiten. Da die kabylische Bevölkerung den Terroristen die Unterstützung verweigert, sieht sie sich zwischen den Fronten. Immer wieder werden Unternehmer oder deren Familienangehörige von bewaffneten Gruppen entführt und erst gegen hohe Lösegelder freigelassen. Die Behörden werden in diesen Fällen gar nicht erst informiert, weil ihnen nicht vertraut wird und sie ohnehin untätig bleiben. Die so auf sich allein gestellte Bevölkerung weiß sich jedoch mittlerweile selbst zu helfen. So wurde am vergangenen Wochenende ein 80 Jahre alter ehemaliger Unternehmer nach mehreren Wochen Geiselhaft von seinen Entführern ohne Gegenleistung freigelassen. Die Bevölkerung mehrerer Dörfer hatte sich zusammengeschlossen und war den Erpressern Tag und Nacht mit lautstarken Protesten buchstäblich zu Leibe gerückt. Die Nachricht vom Erfolg dieser Aktion hat die Kabylen noch enger zusammengeschweißt.

* Aus: Neues Deutschland, 20. April 2010


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