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"Weltweit größte Ungleichheit"

Algeriens Regierung, die USA und Europa setzen auf Militär. Keine Perspektiven für Bevölkerung Nordafrikas

Von Astrid Schäfers *

Nach dem blutigen Ende des Geiseldramas in Algerien wurden am Mittwoch noch immer vier Angestellte des Energiekonzerns BP vermißt. Konzernchef Bob Dudley räumte ein, daß es kaum Hoffnung gibt, daß sie noch am Leben sind. »Mit großer Trauer muß ich jetzt sagen, daß wir für sie alle das Schlimmste befürchten«, sagte Dudley am Dienstag in London. Am Mittwoch sollte an allen BP-Standorten weltweit eine Schweigeminute für die Opfer abgehalten werden.

Der Angriff auf die Gasförderanlage in Tigentourine/In Amenás durch die islamistische Gruppe von Mokhtar Belmoktar hat jedoch vor allem Algerien hart getroffen. Die von der staatlichen algerischen Sonatrach und BP betriebene Anlage liefert 18 Prozent des von Algerien exportierten Gases. Aber neben dem wirtschaftlichen Schaden ist es den Angreifern auch gelungen, die algerische Regierung in der Frage der Überflugrechte für Frankreich für die Militärintervention in Mali unter Druck zu setzen. So schloß Algeriens Premierminister Abdelmalek Sellal am Montag offenbar unter dem Eindruck der Ereignisse eine Beteiligung seines Landes an den Angriffen auf Stützpunkte der Rebellen im Norden Malis aus.

In einer Videobotschaft auf der Internetseite der »Sahara Media Agency« erklärte Mokhtar Belmokhtar: »Wir wollen uns beim algerischen Regime dafür rächen, daß es den Kolonisatoren erlaubt hat, seinen Boden und Luftraum dafür zu nutzen, die unseren im Mali zu töten.« Die Geiselnahme bezeichnete er in einem Telefongespräch mit der französischen Tageszeitung Paris Match als Erfolg: »Es ist uns gelungen, mit nur 40 Männern ein strategisches Gelände anzugreifen, das von 900 algerischen Soldaten bewacht wird«, wird der Dschihadistenführer zitiert.

Während des Bürgerkriegs in den neunziger Jahren holte das algerische Regime zahlreiche vor allem nord­amerikanische Öl- und Gasgesellschaften ins Land. Sie errichteten in der nordafrikanischen Wüste regelrechte Enklaven. Sogar die Wachhunde werden importiert, und kein Algerier darf ohne eine »Sondergenehmigung« einen Fuß in die Förderzonen setzen. »Warum beschäftigen sie dort fast nur Ausländer? Und uns gibt Bouteflika nur den Mindestlohn«, kritisierte ein Algerier im Internet die Politik des algerischen Staatschefs. In noch stärkerem Kontrast stehen die Milliardengewinne, die sich die Sonatrach mit den transnationalen Gaskonzernen teilt, zum Lebensstandard in den angrenzenden Staaten Mali, Niger und Mauretanien. Dies erklärt auch den starken Zulauf in Armut lebender Menschen aus diesen Staaten zu gewalttätigen islamistischen Gruppen. So hatten sich an der Geiselnahme im südwestalgerischen Tigentourine 40 Dschihadisten begteiligten, die vor allem aus den angrenzenden muslimischen Ländern stammten. Zwei besaßen die kanadische Staatsangehörigkeit.

»Die Gasförderanlage in Tingentourine/In Amenas befindet sich im Grenzgebiet mit der weltweit größten sozialen Ungleichheit«, kommentierte der spanische Wirtschaftswissenschaftler Iván Martín gegenüber der algerischen Tageszeitung El Watan. Ein Angestellter einer Öl- oder Gasgesellschaft im Süden Algeriens verdiene monatlich rund 5000 Euro, ein Bewohner des Grenzgebiets auf der malischen Seite müsse hingegen von weniger als 1,25 Dollar pro Tag leben. Hinzu komme, daß 75 Prozent der malischen Bevölkerung Analphabeten seien und es nur wenige Schulen gibt.

Algerien gehört zu den Ländern mit dem höchsten Durchschnittseinkommen in Nordafrika und muß nun die Verantwortung für die seit Jahrzehnten vergessene Sahelregion mittragen. In den letzten Jahren haben sich dort die militärischen Auseinandersetzungen rivalisierender Gruppen im Kampf um Gas, Öl, Uran und Phosphat zugespitzt, die von ausländischen Interessengruppen forciert werden. Den sozialen und wirtschaftlichen Problemen in der Region begegnen Algerien, die USA und Europa jedoch mit militärischen »Lösungen«. Eine Perspektive haben sie der Bevölkerung nicht zu bieten.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 24. Januar 2013


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