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Ein Tsunami der Wut rast durch Algerien

Tote bei gewaltsamen Protesten gegen Preiserhöhungen und Missstände / Opposition ruft zum Generalstreik auf

Von Abida Semouri, Algier *

Brennende Reifen, Barrikaden, Tränengasschwaden in der Luft: Seit einer Woche wiederholt sich das Szenario in Algerien Abend für Abend. Mit Messern und Stangen bewaffnete Jugendliche liefern sich Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften. Bevorzugte Ziele sind Banken, Poststellen, Autohäuser und Luxusgeschäfte. Innenminister Dahou Ould Kablia bestätigte am Wochenende den Tod von drei Jugendlichen.

Die schweren Unruhen waren im Algierer Viertel Bab El Oued ausgebrochen, nachdem die Preise für Zucker und Öl um 30 Prozent gestiegen waren, und haben auf nahezu alle Regionen Nordalgeriens übergegriffen. Derartige Ausbrüche des Unmuts der Bevölkerung waren auch bisher fast täglich an der Tagesordnung. Ende vergangenen Jahres veröffentlichte die unabhängige Zeitung »Liberté« die traurige Bilanz von landesweit nicht weniger als 9000 »Aufständen« im Monat. Unzufriedene Bürger protestierten gegen Arbeitslosigkeit, schlechte Wasser- und Stromversorgung und fehlende Wohnungen. »Was allerdings jetzt passiert, ist ein regelrechter Tsunami der Wut«, so der Kommentator des Wochenblatts »El Watan Week-end«. »Der soziale Zusammenhalt ist zerbrochen und das in einem Moment, wo im Kampf gegen den Terrorismus mehr denn je die Verbindung zwischen Volk und Regierung gefragt sein müsste.«

Was die jugendlichen Demonstranten im wahrsten Sinne des Wortes auf die Barrikaden bringt, ist vor allem die Arroganz der Machthaber. Drei Viertel der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre und müssen zusehen, wie das Geld aus den Öl- und Gaseinnahmen in dunklen Kanälen versickert. Großprojekte werden finanziert, jedoch von ausländischen Firmen realisiert und nicht zur Schaffung von Arbeitsplätzen genutzt. So entstand der neue internationale Flughafen in Algier, von dem aus die meisten jungen Algerier keine Reise antreten können. Die Ost-West-Autobahn werden die meisten niemals nehmen können, weil sie sich kein eigenes Fahrzeug leisten können. In den Neubauwohnungen werden die meisten nicht leben, da ihnen das regelmäßige Einkommen für Miete oder Kauf fehlt. Junge Algerier können nicht einmal eine Familie gründen, da sie nicht die Mittel dazu haben.

Zu diesem angestauten Frust kommen desolate Zustände im Gesundheits- und Bildungswesen. Der Staat investiert nicht nur zu wenig Geld, sondern wirtschaftet die vorhandenen Strukturen zudem durch fehlendes oder inkompetentes Management herunter. Die von der Obrigkeit vorgelebte Korruption hat sich inzwischen bis in den letzten Winkel des Landes als gängige Praxis durchgesetzt.

Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika wird zwar auch in seiner nunmehr dritten Amtszeit nicht müde, »Fortschritte« bei Modernisierung und Demokratisierung zu preisen. Allerdings holt ihn die Realität dieser Tage auf deutliche Weise ein: Die politischen Parteien wurden in seiner Amtszeit demontiert und jeglicher Verbindung zur Basis beraubt. Die offizielle Gewerkschaft ist zahnlos geworden, unabhängige Interessenvertretungen werden nicht zugelassen. In Ermangelung einer friedlichen Opposition bricht sich jetzt zunehmend der Unmut durch Gewalt Bahn.

Dabei wird selbst der einstige Anführer der Islamischen Heilsfront (FIS), Ali Benhadj, der Anfang der 90er Jahre mit seinen aufpeitschenden Reden Stadien füllte und seine Anhänger zu Hunderttausenden auf die Straße und schließlich in den bewaffneten Untergrund brachte, von den Wütenden ignoriert. Als er versuchte, sich in Bab El Oued an die Spitze der Rebellion zu stellen, schrien ihn die Jugendlichen nieder, griffen sein Auto an und jagten ihn davon. Ein Ende der Unruhen ist nicht abzusehen, von einer Lösung der Probleme ganz zu schweigen. Für diesen Montag haben Oppositionsparteien zum Generalstreik aufgerufen.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Januar 2011


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