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Die vergifteten Felder von Ituzaingó

Am Rand der argentinischen Stadt Córdoba wurden Agrochemikalien in großen Mengen versprüht - Krankheitsfälle häufen sich

Von Jürgen Vogt, Córdoba *

Heute beginnt in Córdoba der Prozess gegen zwei Sojaproduzenten und einen Kleinflugzeugbesitzer, die Agrochemikalien rund um das Stadtviertel Ituzaingó eingesetzt haben, ohne den Mindestabstand zu den Häusern der Anwohner einzuhalten. Anwohner von Ituzaingó sagen als Zeugen aus. Dort häufen sich die Krankheitsfälle.

Der Weg nach Ituzaingó führt über die alte Nationalstraße 9. Knapp 30 Minuten dauert die Fahrt mit dem Bus vom Zentrum der argentinischen Provinzhauptstadt Córdoba in das südliche Stadtviertel. Wie ein rechteckiges Anhängsel ragt Ituzaingó aus dem rundlichen Grundriss der Stadt mit ihren 1,4 Millionen Einwohnern. Umgeben von weitläufigen Feldern leben die Menschen in Ituzaingó wie auf dem Land. Über den Feldern tummelten sich noch bis vor wenigen Jahren Sprühflugzeuge und ließen einen Mix aus Herbiziden, Pestiziden und Fungiziden auf die Sojakulturen um Ituzaingó herabrieseln.

Gemächlich schaukelt der Bus über die Hauptstraße, vorbei an den flachen Steinhäusern, entlang an den geöffneten Geschäften. Nach dem landestypischen Schachbrettmuster gebaut, gleicht Ituzaingó dem argentinischen Musterdorf. Nur die Straßen tragen nicht die üblichen Namen. Gutenberg, Daimler, Wolfgang Pauli oder Max-Planck-Straße steht auf den Schildern. Hinweise auf den jahrzehntelangen Protest gegen Agrochemikalien finden sich dagegen nirgends. Kein Graffito an den Hauswänden, keine Transparente über den Straßen.

An der Endhaltestelle zieht der Bus seinen Wendekreis. Hier, am Ende von Ituzaingó, liegen die Felder. Heute sind sie Bauland. Noch ist wenig zu erkennen, aber bald sollen junge Familien mit Kindern dort wohnen.

Um die Ecke in der Max-Planck-Straße spielt die kleine Morena vor dem Haus. »Sie hat Asthma«, sagt Großmutter Maria Cortéz. »Wir haben viele Kranke im Viertel.« Gegenüber starb der Nachbar an der Autoimmunerkrankung Lupus, dort hat die Tochter Leukämie. Maria Cortéz zeigt die Straße hinauf und hinunter. Seit 40 Jahren schon wohnt die 70-Jährige in diesem Viertel. Vor 15 Jahren wurde sie wegen Gebärmutterkrebs operiert. Ob das auch mit den Agrochemikalien zu tun hatte, kann sie nicht mit Sicherheit sagen. »Heute haben wir vor allem Angst um die Kinder.« Ihr fünfjähriger Enkel Axel hat Bronchospasmus. Angst vor dem Ergebnis der Blutproben

Im März 2011 wurde Axel eine Blutprobe abgenommen. Die Mutter Cecilia Angel war zuerst dagegen. »Es war die Angst vor dem Ergebnis, die Angst vor der Wahrheit.« Sie sagt es ohne Umschweife. Insgesamt wurden bei 140 Kindern Blutproben genommen. Untersucht werden sollte, ob Agrochemikalien im Blut vorkommen - und wenn ja, welche. Seit über einem Jahr warten die Familien auf die Untersuchungsergebnisse. Erst in diesen Tagen sollen sie ihnen übergeben werden.

Schräg gegenüber steht das Haus, in dem Sofia Gatica wohnte. Damals, im Jahre 2001, liefen Kinder mit Mundschutz durch das Viertel, die Mütter trugen Kopftücher wegen der Chemotherapien. Eine Nachbarin erlitt mehrere Schwangerschaftsabbrüche, eine andere nebenan hatte Krebs, gegenüber hatte ein Mann Lupus, dort noch eine Frau Krebs. »Meine kleine Tochter starb an einer Nierenmissbildung, mein Sohn konnte sich kaum bewegen«, erinnert sich Sofia Gatica.

Sie ging daraufhin von Haus zu Haus und machte eine Zusammenstellung: Name, Vorname, welche Krankheit, bei welcher Krankenstation sie waren, wer sie empfangen hatte. Auf einen Plan vom Viertel malte sie in bunten Kreisen die Krankheiten: rote Dreiecke - Leukämie, rote Kreise - Krebs. Je näher die Betroffenen an den Feldern wohnten, desto mehr Kreise musste sie einzeichnen.

Mit ihren Ergebnissen ging sie 2002 zur Gesundheitsbehörde. Als eine Reaktion ausblieb, mobilisierte sie erstmals die Betroffenen und die Öffentlichkeit. Mit Kindern aus den umliegenden Straßen malte sie Plakate mit Aufschriften wie: »Wir haben Krebs«, »Wir haben Leukämie«, »Helft uns!« Schon einen Tag später meldete sich der Gesundheitsminister. Der teilte ihr mit, dass das Wasser im Viertel mit Endosulfan belastet sei, ein in vielen Ländern verbotenes Insektizid. »Ich hatte von Beginn an die Agrochemikalien in Verdacht. Von meinem Haus aus konnte ich ja die kleinen Sprühflugzeuge sehen, die da ständig herumflogen.«

Soziologen würden die 6000 Einwohner von Ituzaingó als eine Mischung von Unterschicht und unterer Mittelschicht bezeichnen. Wer Arbeit hat, pendelt ins Zentrum der Provinzhauptstadt oder zu den nördlich gelegenen Werkhallen der Fahrzeugbauer FIAT und IVECO. Viele im Viertel sind von Sozialplänen abhängig. Niemand lebt von der Landwirtschaft.

In einer offiziellen Studie des Gesundheitsministeriums der Provinz stellte eine medizinische Kommission im Jahr 2005 fest, »die Untersuchung der Fälle von Krebs« zeige, dass die Häufigkeit ihres Auftretens »im Rahmen der internationalen Werte« liege. Das ist für viele das einzige wissenschaftlich fundierte Untersuchungsergebnis. Der Protest gegen die Vergiftung ihres Ortes brachte die Bewohner nur selten auf die Straße.

Eine kleine Gruppe von ehemals 15, heute nur noch fünf Müttern treibt die Aufklärung voran. »Wir sind Mobilisiererinnen, wir suchen die Öffentlichkeit, gehen zu den Behörden, in die Ministerien, gehen auf die Straße und blockieren sie nötigenfalls auch. Und wir gehen zu den Kranken, nehmen ihre Daten auf.« Unterstützung erhalten Maria, Corina, Rita, Angelica und Sofia von außerhalb. Trauriges Musterdorf mit hoher Krebsrate

Dazu gehört der Mediziner Medardo Avila, der einige Jahre bei der städtischen Gesundheitsbehörde eine leitende Funktion innehatte. »In Ituzaingó liegt die Rate der an Krebs Verstorbenen mit 33 Prozent weit höher als der Landesdurchschnitt von 18 Prozent«, sagt er. Der Kinderarzt gehört den »Mediziner aus besprühten Orten« an, einer Gruppe von Ärzten, die in den vergangenen Jahren immer dringlicher auf die gesundheitlichen Folgen des zunehmenden Einsatzes von Agrochemikalien hinweist. Für Avila ist Ituzaingó ein trauriges Musterdorf. »Was hier passiert, trifft auf viele Orte in Argentinien zu.« Waren zuvor nur die unmittelbar mit den Agrochemikalien arbeitenden Personen und die Konsumenten der belasteten Nahrungsmittel betroffen, hat sich in den letzten 15 Jahren eine neue Kategorie von Kranken gebildet: die Anwohner der Felder mit Monokulturen. »In Argentinien leben rund zwölf Millionen Menschen in Orten mit weniger als 100 000 Einwohnern, die vor allem von Soja- und Maisfeldern umgeben sind.« Der Einsatz von Agrochemikalien stieg von 30 Millionen Liter im Jahr 1990 auf 340 Millionen Liter im Jahr 2011, weiß Avila.

Die Direktaussaat hat die Produktionsweise der argentinischen Landwirtschaft in den vergangenen 20 Jahren revolutioniert. Ohne die Ackerfläche umzubrechen, wird das Saatgut in den Boden gebracht. Doch muss die Anbaufläche bis zu dreimal pro Wachstumszyklus von Kraut »gereinigt« werden. Dafür sorgt Glyphosat, ein Herbizid, das alles vernichtet, gegen das aber genetisch verändertes Soja-, Mais-, und Weizensaatgut resistent ist. Nach einer offiziellen Studie werden jährlich zwischen 180 und 200 Millionen Liter Glyphosat auf die Felder ausgebracht.

Für ihr Engagement wurde Sofia Gatica vor Kurzem mit dem renommierten »Goldman Environmental Prize« ausgezeichnet. Dass der Preis mit einer Geldprämie verbunden ist, hatte sich in Ituzaingó schnell herumgesprochen. »Die schlägt aus unserer Krankheit Kapital«, raunte man hinter vorgehaltener Hand. »Das Misstrauen, dass es uns gar nicht um die Gesundheit gehe, schlug uns immer entgegen«, gesteht Sofia. Vergangenes Jahr ist sie von Ituzaingó in die Innenstadt gezogen. Sie hat sich für die Gesundheit ihres Sohnes entschieden. In seinem Blut wurden zwei Agrochemikalien nachgewiesen. Eine Rückkehr in ihr Haus in der Max-Planck-Straße schließt Sofia Gatica aus.

* Aus: neues deutschland, Montag, 11. Juni 2012


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