Literarische Aufarbeitung
Der Großteil der zur diesjährigen Buchmesse Frankfurt am Main veröffentlichten argentinischen Neuerscheinungen dreht sich um das Thema
Militärdiktatur
Von Johannes Schulten *
Die Präsenz des Ehrengastes Argentinien auf der diesjährigen Frankfurter
Buchmesse steht ganz im Zeichen der Aufarbeitung der jüngsten
Militärdiktatur (1976 bis 1983). Zwar wird es auch zahlreiche
Veröffentlichungen zu den traditionellen argentinischen
»Literaturmarken« Tango, Fußball und Jose Luis Borge (1899-1986) geben.
Der Großteil der herausgegebenen, neu aufgelegten oder erstmalig
übersetzten Titel dreht sich jedoch auf die eine oder andere Weise um
die Jahre des argentinischen Terrors. Das Spektrum der verschiedenen
Blickwinkel auf die eigene Geschichte umfaßt dabei Neuauflagen von
Werken »Verschwundener Autoren«, über autobiografische Texte junger
Schriftsteller, die unter falschem Namen in fremden Familien aufwuchsen,
während ihre Eltern von den Schergen der Generäle ermordet wurden, bis
hin zu politischen Betrachtungen. Im Zentrum stehen jedoch Vertreter der
sogenannten Generation wie Nestór Kohan oder Laura Alcoba, die sich in
ihren neuen Werken eher abstrakt mit der Diktatur auseinandersetzen.
Erinnerung wird honoriert
Daß bei einer solchen Schwerpunktsetzung zwangsläufig Autoren weniger
Beachtung finden, die sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigten,
ist zwar bedauerlich, aber durchaus verkraftbar. Ohnehin wird in
Argentinien bald dreißig Jahre nach dem Abgang der Generäle mehr denn je
über die Diktatur geschrieben - was nicht zuletzt damit zusammenhängt,
daß erstmals ein gesellschaftliches Klima existiert, welches die
Erinnerung in der Literatur honoriert. So mußten Autoren wie die zu
recht weltweit gefeierte Elsa Osorio ihren Verschwundenen-Roman »Mein
Name ist Luz« vor einigen Jahren noch in Spanien herausbringen, weil
sich in Argentinien kein Verlag dem Thema annehmen wollte. Heute
veröffentlicht sie in den angesehensten Verlagshäusern des Landes.
Der Grund für diese Entwicklung liegt nicht zuletzt in dem durch den
ehemaligen Präsidenten Néstor Kirchner vorangetriebenen Bruch mit der
bisherigen Menschenrechtspolitik. Seit sich dieser bei seiner
Antrittsrede vor den Streitkräften weigerte, unter einem Porträt des
Junta-Generals Jorge Rafael Videla zu sprechen, hat Argentinien eine
nicht nur für lateinamerikanische Verhältnisse bemerkenswerte
Aufarbeitung der Verbrechen der jüngsten Geschichte in Gang gesetzt.
Exgeneräle verurteilt
In zahlreichen Prozessen wurden führende Exgeneräle verurteilt.
Opferorganisationen wie die Großmütter der Plaza de Mayo genießen heute
den Status von Nationalhelden und besuchten die argentinische
Fußballnationalmannschaft in Südafrika. In den 90er Jahren wurden noch
Anschläge auf ihre Einrichtungen der Großmütter verübt.
Mit ihrer Anklage gegen das Management der großen Medienmultis Clárin
und La Nación unternimmt die aktuelle Regierung um Cristína Fernández de
Kirchner erstmals den Versuch, auch die ökonomischen Profiteure der
Diktatur zu belangen.
* Aus: junge Welt, 6. Oktober 2010
»Verschwundene«
Fotoausstellung findet doch statt
Nach einigem Hin- und Her soll die Ausstellung mit Gustavo Germanos
Fotografien von während der argentinischen Militärdiktatur
verschwundenen Menschen nun doch während der Frankfurter Buchmesse
gezeigt werden. Ein Sprecher des Gastlandes hatte Ende der Woche
mitgeteilt, die Schau mit dem Titel »Ausencias« (Abwesenheiten) wie
ursprünglich geplant in der Paulskirche zu zeigen. »Vermutlich wird sie
ab Ende der kommenden Woche zu sehen sein«, hieß es.
Anfang dieser Woche hatte das Organisationskomitee des argentinischen
Ehrengastlandauftritts (COFRA) die für den heutigen Mittwoch geplante
Wiedereröffnung überraschend abgesagt. Als Grund wurden »logistische und
organisatorische Probleme« genannt.
Die hochgelobte Ausstellung wurde im September bereits im spanischen
Frankfurter Instituto Cervantes gezeigt. Germano stellt darin Bilder von
Familien oder Paaren aus Familienalben seiner Heimatregion Entre Rios
aus den 1970er Jahren aktuellen, von ihm aufgenommenen Fotos gegenüber.
Viele Menschen, die damals auf Fotos zu sehen waren, fehlen auf den
heutigen. Sie gehören zu den über 30000 Verschwundenen, die das
Militärregime hinterlassen hat.
Der 1964 geborene Fotograf Gustavo Germano ist selbst ein Opfer. Sein
ältester Bruder verschwand spurlos. Für Germano stellt die Kunst einen
Weg dar, mit dem Verlust umzugehen.
Im Buch zur Ausstellung wird die Bilderserie Germanos mit Texten
argentinischer Autoren wie Jorge Luis Borges, Julio Cortázar oder dem
selber von den Militärs getöteten Journalisten Rodolfo Walsh ergänzt.
(dapd/jW)
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