Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Besseres Verhältnis zum Kapital als die Diktatur"

Gespräch mit Martín Hourest. Über die Politik der Präsidentin Argentiniens Cristina Fernández, die Überwindung der Wirtschaftskrise von 2001 bis 2003 und die gegenwärtige Auseinandersetzung mit dem Agrarbusiness

Martín Hourest (geb. 1960) ist argentinischer Politiker. Seit 2007 ist er Mitglied des Stadtrats von Buenos Aires für die Fraktion »Soziale Gleichheit«.



Cristina Fernández de Kirchner von der peronistischen Gerechtigkeitspartei PJ ist nun seit mehr als acht Monaten Präsidentin Argentiniens. Bislang war ihre Regierungszeit vor allem gezeichnet durch soziale Konflikte – der Agrarsektor trat monatelang in den Ausstand, mehrere Gewerkschaften streikten. Das alles hat es in den vier Amtsjahren ihres Vorgängers, ihres Ehemanns Néstor Kirchner, nicht gegeben. Was macht sie falsch?

Ich denke, um das zu beantworten, sollte man zwei Aspekte untersuchen. Zum einen geht es um die Frage der Führung des Staates. Wer steht eigentlich an der Spitze Argentiniens? Institutionell ist das klar: Cristina Fernández. Doch in der politischen Praxis spielt Expräsident Kirchner immer noch eine sehr starke Rolle. Das geht soweit, daß in der Bevölkerung von einem »geteilten Kommando« gesprochen wird. Diese Unbestimmtheit der Führung hat auch damit zu tun, daß das politische Projekt, für das Cristina Fernández angetreten ist, nicht das ihre ist, sondern immer noch von ihrem Mann angeführt wird.

Ihr zweites Problem ist, daß dieses politische Projekt an seine Grenzen stößt. Sie hat beim Antritt der Präsidentschaft sehr viel angekündigt, wollte große nationale Pakte schließen und die Konflikte, die die Regierungszeit ihres Mannes überschattet hatten, hinter sich lassen. In keinem Augenblick aber hat sie einen wirklichen Kurswechsel vollzogen. Weder hat sie die unter Kirchner ausgesetzten Beziehungen zwischen Parlament und Regierung wiederaufgenommen, noch ist sie auf soziale Kräfte und politische Parteien zugegangen. Sie hat statt dessen auf Kontinuität gesetzt.

Auf den ersten Blick scheint aber auch dieses »Weiter so« als zutiefst widersprüchlich. So paralysierte die Auseinandersetzung mit dem Agrarsektor das Land monatelang. Néstor Kirchner hatte selbst die Ausweitung des Sojaanbaus gefördert, jetzt will Cristina Fernández ihn wieder einschränken. Die Regierung liegt also mit einem Sektor im Clinch, den sie vorher außergewöhnlich stark gefördert hat. Worin besteht das Projekt der Kirchners?

Es handelt sich klar um eine Krise – nicht nur des Projekts der Kirchners, sondern dessen, was der Peronismus heute repräsentiert. Als die Bewegung aufkam, in den 1940er und 1950er Jahren, waren die Peronisten die Partei der Vollbeschäftigung, der sozialen Gerechtigkeit und der Umverteilung der Einkommen von oben nach unten. Außerdem bauten sie staatliche Institutionen auf und festigten sie. In den 1990er Jahren aber war der Peronismus die Partei der Arbeitslosigkeit und der größten Repression, die es jemals in einer demokratischen Periode gegeben hatte, die Partei der Zerschlagung des Staates durch eine Welle von Privatisierungen. 2000 stießen die Peronisten einen neuen Prozeß an: Zum einen wollten sie den Staat rekonstruieren, aber als Partei der Ordnung und nicht als Partei des Wandels. Und sie riefen ein paar neue Losungen aus: die Ablehnung des neoliberalen Modells der 1990er Jahre, die Vertiefung der Menschenrechtspolitik und die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen dem produktiven und dem spekulativen Kapital.

Wer hat dieses neue Projekt angestoßen?

Eduardo Duhalde hat als Übergangspräsident vom Januar 2002 bis zum Mai 2003 die Unterscheidung zwischen dem »produktiven und dem spekulativen Land« in Umlauf gebracht. Aber erst sein Nachfolger Néstor Kirchner hat den kämpferischen Peronismus der 1970er Jahre instrumentalisiert, indem er versuchte, ein neues historisches Subjekt des Peronismus zu konstruieren. Bis in die 1970er Jahre war klar, wen der Peronismus repräsentierte – die unteren, bislang ausgeschlossenen Schichten. Doch was war das historische Subjekt des Peronismus der 1990er Jahre? Carlos Sául Menem, der von 1989 bis 1999 Präsident war, appellierte an die untersten und die obersten Schichten der Gesellschaft. Kirchner versuchte nun, als Nutznießer der neuen sozialen Konfiguration nach der bisher schlimmsten Wirtschafts- und Währungskrise des Landes 2001 und 2002 die städtischen Mittelschichten einzubinden, die traditionell dem Peronismus ablehnend gegenüberstanden. Er strebte also eine stärker klassenübergreifende Verankerung an. Doch dabei handelt es sich vor allem um einen Wechsel der Rhetorik. Die »großen Errungenschaften« des Menemismus der 1990er hat er nicht angetastet: die Unabhängigkeit der Zentralbank, die Privatisierung des Renten- und Pensionssystems, die Übertragung von Energieressourcen und Bodenschätzen an hauptsächlich transnationale Konsortien und die Liberalisierung des Arbeitsmarkts – mal abgesehen von der späten Wiedereinführung des dynamischen Mindestlohns.

Welche Folgen hatte diese Neuauflage des Peronismus noch?

Für Argentinien als Gesellschaft bedeutete dies erst mal einen großen Schock. Die Währung wurde durch Duhalde sehr stark abgewertet. Nach dieser brutalen Umverteilung der Einkünfte – diesmal von unten nach oben – begann ein neuer Wachstumszyklus, der sich aber immer stärker aus dem Konsum der Sektoren mit den höchsten Einkommen speiste und immer weniger aus dem Konsum der Sektoren mit den niedrigsten Einkommen.

Sie sagen also, daß diese Umkehrung der Umverteilung weitergeht?

Ja, zweifellos.

Es ist noch nicht lange her, daß die Leute in Argentinien auf die Straße gingen und einen kompletten Austausch der Führungsriege forderten. Einige setzen sogar auf eine völlige Alternative zum bestehenden System, auf eine Gegenmacht von unten. Warum ist die parlamentarische linke Opposition bislang so schwach geblieben?

Der Zusammenbruch des politischen Systems in Argentinien hat damit zu tun, daß man es nicht schaffte zu regieren. Es stimmt, daß die Leute 2001/2002 auf der Straße skandierten, »Piquete y cazerola, la lucha es una sola, que se vayan todos« (auf deutsch etwa »Straßen sperren oder Kochtöpfe schlagen, der Kampf ist derselbe, damit alle verschwinden!« – d.Red.). Doch in entwickelten Gesellschaften wie der unsrigen können politische Subjekte nicht kurzfristig entstehen. Die indigene Bewegung, die in Bolivien Evo Morales trägt, oder die Kräfte, die heute den Präsidenten von Ecuador, Rafael Correa, unterstützen, sind nicht auf einen Schlag entstanden, sondern sie haben eine lange Entwicklung hinter sich. Bei uns gab es das aber nicht.

Um die Entwicklung vom Zusammenbruch 2001/2002 bis heute zu verstehen, ist es wichtig, die Rolle der Peronisten als Partei der Ordnung zu verstehen. Was haben sie getan, um die Krise zu überwinden? Sie haben einen Disziplinierungsprozeß initiiert, der seinesgleichen sucht: Ohne die Ermordung der beiden Piqueteros Darío Santillán und Maximiliano Kostecki 2002 durch Sicherheitskräfte nach der Auflösung einer Demonstration, ohne das Blutvergießen auf der Straße, wäre die Krise nicht zu einem Ende gekommen oder hätte zumindest eine ganz andere Entwicklung genommen.

Andererseits glaube ich auch, daß die Mobilisierung damals naiverweise mit einer politischen Offensive subalterner Klassen verwechselt wurde. Zwar schimpften die Leute über das politische System, doch der Handel ging weiter. Niemand griff die Absperrungen der Zentralbank an, obwohl andere Banken angegriffen wurden.

Was meinen Sie damit, daß niemand gegen die Absperrungen der Zentralbank Sturm lief?

Ich meine, daß diese Institution weiter funktionierte, daß sie weiter Devisen ausschüttete, daß weiter Steuern erhoben und gezahlt wurden…

… daß Argentinien auch die Auslandsschulden weiter bediente?

Ja – und das mitten in der Krise! Es stimmt zwar, daß der Staat an Legitimation verlor. Aber die hat er schnell wiedergewonnen durch zwei, drei Schachzüge von Kirchner: Durch den erzwungenen Rücktritt von Teilen des als korrupt verschrieenen Obersten Gerichtshofes (der noch von Menem berufen worden war, d.Red.), durch die Wiederaufnahme von Prozessen gegen die Diktaturverbrecher, durch das rhetorische In-die-Pflicht-Nehmen der nationalen Unternehmer – und schon hatte sich der Staat, der sich gerade eben noch im »Verfall« befand, rekonstituiert. Am Ende mutierten diejenigen, die am lautesten »Alle sollen verschwinden« gerufen hatten, zu den stärksten Anhängern von Kirchner.

Aber warum geschah das?

Das Angebot des Kirchnerismus an die sozialen Gruppen, die an Werten wie der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit hingen, schien in diesem Augenblick überzeugend zu sein. Das verdeckte gleichzeitig die Möglichkeit, daß eine andere politische Kraft auftauchen konnte. Die linke Opposition hat es deshalb nicht geschafft, einen qualitativen Sprung zu machen und die Regierung der Kirchners als die »progressive« Version einer Ordnungspartei zu demaskieren und die Rolle einer Partei des Wandels zu übernehmen. Hätte die Opposition damals nicht Kirchner unterstützt, sondern z. B. die Wiederverstaatlichung der Mineralölgesellschaft YPF gefordert, die Verteilung der Einkommen ernsthaft diskutiert oder das Verhältnis von Zentralstaat und Provinzen und die Beziehung zum Parlament wiederbelebt, dann hätte Kirchner noch viele Bilder von Diktatoren in der Militärakademie abhängen können, er wäre dennoch als rechter Politiker wahrgenommen worden.

Sie haben von den Widersprüchen des Systems Kirchner, der aktuellen Regierung gesprochen. Was meinen Sie damit genau?

Ich gebe ein einfaches Beispiel. Die Regierung Kirchner sagt, laßt uns die Rolle des Internationalen Währungsfonds diskutieren. Tatsächlich wirft sie dem IWF elf Milliarden US-Dollar hinterher, und die Sache ist erledigt. Dasselbe bei den Gewerkschaften. Es heißt: »Wir wollen Pluralismus und keinen Einheitsdachverband« (der in Argentinien sehr stark von der Regierung beeinflußt wurde – d.Red.). Aber dann sagen sie den Arbeitern: »Geht protestieren, aber tragt selbst die Konsequenzen«, d.h. das bestehende unternehmerfreundliche Gewerkschaftsmodell wird nicht angetastet. Dasselbe beim Verhältnis zum produzierenden Wirtschaftssektor: Man setzt in der offiziellen Rhetorik auf die kleinen und mittleren Unternehmer, aber in Wirklichkeit hat die Regierung der Kirchners mehr Subventionen an das große Kapital gezahlt als die Militärdiktatur zwischen 1977 und 1983. Das heißt, das fiskalische Verhältnis zwischen Staat und Großkapital ist heute besser als unter dem damaligen Diktator Jorge Videla und Konsorten.

Kann man das quantifizieren?

Die Höhe der Subventionen im Staatshaushalt für das konzentrierte Kapital übersteigt zwöfl Milliarden Peso (umgerechnet 2,7 Milliarden Euro – d. Red.) pro Jahr.

Welchen Sektoren der Wirtschaft kommt das Geld zugute?

Subventionen werden an Unternehmen gezahlt, die öffentliche Versorgungsaufgaben übernommen haben, an Transportunternehmen, an Fluglinien, an die Lebensmittelindustrie zum Ausgleich für die niedrigen Preise auf dem lokalen Markt im Vergleich zum Weltmarkt. Wenn wir die Firmen auf einer Karte markieren, die Subventionen erhalten, bekomme wir ein ein sehr genaues Bild der Orte, wo das konzentrierte Kapitals sitzt.

Aber wie paßt diese Politik mit der Rhetorik der Kirchners von »Nationalisierungen« zusammen?

Die Kirchners haben kein anderes Staatsmodell als Menem, der sämtliche Staatsbetriebe zu Spottpreisen privatisiert hat. Wenn jetzt im Fall der Luftlinie Aerolineas lokale Unternehmensgruppen auftreten, um den ehemaligen Staatsbetrieb zurückzukaufen, sollte man sich zuerst einmal fragen, ob ihr Kapital wirklich aus eigenen Mitteln stammt oder ob es nur geliehen ist. Zweitens: Argentinien könnte – ohne den Erdölkonzern YPF aufzukaufen – den Treibstoffmarkt regulieren, aber sie machen es nicht. Argentinien könnte – ohne Aerolineas aufzukaufen – den Luftfahrtmarkt regulieren, aber sie machen es nicht. Argentinien könnte – ohne Telecom zu kaufen – den Telekommunikationsmarkt regulieren, aber sie machen es nicht. Die Regierung agiert weiterhin zum Vorteil dieser Firmen. YPF zum Beispiel wurde erlaubt, Erdöl auszuführen, ohne in die Erkundung neuer Lagerstätten zu investieren. Man hat ihnen sogar umfassendere Konzessionen gegeben. Es macht den Eindruck, daß die Kirchners lokale Kapitalgruppen an sich binden, ohne die Funktionsweise dieser Märkte verändern zu wollen.

Noch einmal zum aktuellen Konflikt im Agrarsektor: Was ist der Auslöser – wirklich nur der inzwischen gescheiterte Versuch der Regierung, Exportabgaben auf bestimmte Rohstoffe einzuführen?

Ich glaube, um den Widerstand des Agrobusineß wirklich zu verstehen, ist es wichtig zu sehen, daß hier mit zweierlei Maß gemessen wurde. Selbst während der härtesten Zuspitzung mit den Farmern gab es Dinge, die die Regierung nicht angerührt hat. Die Exportunternehmen wurden nicht belangt, doch gerade die sind die großen Profiteure des Soja-Geschäfts. Auch die transnationalen Produzenten von Saatgut und Düngemittel wurden nicht in die Verantwortung genommen, auch nicht die Speiseölindustrie und die Kühlhäuser. Diese Bereiche sind ökonomisch viel stärker konzentriert als die direkten Erzeuger, und sie haben deswegen eine größere Verhandlungsmacht als diese. Statt dessen wurde durch die Exportabgaben die Mitte der Produktionskette, also die Farmer, übermäßig stark belastet. Doch das folgt einer alten Logik des Kapitals in Argentinien. In den 1970er Jahren, als unser Land noch ein Industrieland war, erzählte man sich einen Witz: Wenn die transnationalen Autofirmen einen Konflikt vom Zaun brechen wollten, stifteten sie einen Streik der Zulieferer an. Damit zwangen sie den Staat, die Bedingungen für die großen Firmen zu verbessern. So ist es auch im Konflikt mit dem Agrarsektor gelaufen. Die kleineren und mittleren Produzenten gingen auf die Straße, um letztlich die Gewinne der großen Exportfirmen und der Hersteller von Saat- und Düngemitteln zu sichern.

Interview: Timo Berger

* Aus: junge Welt, 6. September 2008


Zurück zur Seite "Argentinien"

Zurück zur Homepage