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Alternatives Projekt für Argentinien

Victoria Donda über die Grenzen der Reformpolitik der Kirchner-Regierungen *

Victoria Donda ist mit 31 Jahren Argentiniens jüngste Abgeordnete. Ihre Eltern waren bei der Stadtguerilla der Montoneros aktiv und sind seit der Militärdikatur verschwunden. Donda selbst wurde 1977 in der Folteranstalt ESMA geboren, wo der Bruder ihres Vaters maßgeblich mit grausame Regie führte. Sie ist Mitglied der Fraktion der Front für den Sieg des Präsidentenehepaars Kirchner, kommt aber aus der linksradikalen Bewegung Freie des Südens (MLS). Über den Agrarkonflikt und die Politik der Kirchners sprach mit ihr Martin Ling für das "Neue Deutschland".
WQir dokumemtieren das Interview im Wortlaut.



Der Agrarkonflikt zwischen der argentinischen Regierung von Cristina Fernández de Kirchner und den Agrarexporteuren über die Exportabgaben ist nach wie vor ungelöst. Die Regierung will mit höheren Abgaben Umverteilung nach unten finanzieren. Trotzdem konnte man in Deutschland den Eindruck gewinnen, dass die Unterstützung für die Großbauern weit über die Gruppe selbst hinausgeht. Stimmt dieser Eindruck und wenn ja, wie lässt sich das erklären?

Der größte Teil der Bevölkerung, der die Agrarunternehmerverbände unterstützt, ist mit ihnen eng verbunden und partizipiert selbst am Exportgeschäft. Andererseits muss man klar feststellen, dass die Regierung die geplante Erhöhung der Exportabgaben nicht gut kommuniziert hat. Mir scheint der wichtigste Fehler zu sein, dass der Bevölkerung auf dem Land der Sinn der politischen Maßnahmen nicht richtig erklärt wurde. Wir von der Bewegung Freie des Südens (MLS) sind mit der Regierung einer Meinung, dass die Exportabgaben mit steigenden Preisen progressiv ansteigen sollten.

Was ist die Essenz des Agrarkonflikts?

Sie besteht darin, dass die Regierung von den Agrarexporteuren einen Tribut für die vorteilhafte Gewinnentwicklung auf dem Sektor verlangt – vor allem für die Sojaexporteure, die von lange steigenden Weltmarktpreisen profitiert haben. Wir hatten in Argentinien bis vor wenigen Jahren eine große Artenvielfalt und eine breite Palette im Agraranbau. Seit rund fünf Jahren wird wegen des Weltmarktpreises der Sojaanbau massiv ausgeweitet. Dadurch werden viele Monokulturen geschaffen, die schädlich für die Umwelt sind und zur Abholzung von Feuchtwald führten. Das ist ein gefährliches Muster, wie es sich in vielen rohstoffexportierenden Länder findet. Die Regierung will dem mit den höheren Abgaben auf Soja gegensteuern und den Anbau von Grundnahrungsmitteln wieder attraktiver machen. Die Sojaexporteure haben daran kein Interesse.

Die Kirchner-Regierungen seit 2003, zuerst Néstor, nun seine Frau Cristina Fernández, scheinen einer Politik der Umverteilung zu folgen, ohne die gesellschaftlichen Strukturen grundsätzlich in Frage zu stellen, wie das in Ecuador, Bolivien und Venezuela geschieht.

Diese Einschätzung trifft im Allgemeinen zu. Es ist auch ein Teil unserer Kritik an der Regierung. Wir sind der Meinung, dass die Politik der Regierung weit von den Notwendigkeiten einer Transformation entfernt ist, die soziale Gerechtigkeit und die Umverteilung des Reichtums umsetzt. Die Front für den Sieg, der Parteiflügel der peronistischen Partei PJ, der den Kirchners nahe steht, hat am Anfang von Néstor Kirchners Amtszeit (2003-2007) ein soziales Projekt verfolgt, was wir auch begrüßt haben. Aber im Verlauf der Zeit hat sich das Projekt verändert.

Weshalb?

Man darf nicht vergessen, dass in der PJ viele neoliberale Elemente enthalten sind, es ist ja auch die Partei von Carlos Menem, der von 1989 bis 1999 als Präsident eine neoliberale Politik praktizierte. Die PJ hat den Neoliberalismus in Argentinien eingeführt, hoffähig gemacht und ein bedeutender Teil der Parteiführung unterstützt ihn immer noch. Wir dachten, dass die PJ ein Teil einer großen Allianz für die Transformation des Landes hätte sein können, wenn auch nicht der Kopf. Doch die Regierungen Kirchner haben mit dem wieder wachsenden Einfluss der Neoliberalen in der PJ zu kämpfen. Damit werden einer Vertiefung des Reformkurses Fesseln angelegt. Das betrifft die Umverteilung des Reichtums ebenso wie die Eindämmung der Inflation oder den Ausbau der Partizipation der Bevölkerung. Das ist ein großes Problem. Deswegen fehlt auch die Kraft, der Agrarindustrie Einhalt zu gebieten. Im Unterschied zu Bolivien hat sich in Argentinien auf dem Land keine soziale Bewegung gebildet, die Druck auf Veränderung macht. In Bolivien stehen 60 Prozent der Bevölkerung hinter Evo Morales, damit er eine Landreform vorantreibt.

Die Kirchners haben also den Willen, eine radikalere Politik zu verfolgen, aber nicht die Durchsetzungskraft?

Ich glaube nicht so sehr an das Konzept vom politischen Willen. Entscheidend sind die Tatsachen und die politische Praxis. In der Politik entscheidet letztlich die Art und Weise der Organisation und nicht der Wille, um etwas durchzusetzen. Das Problem besteht darin, dass aufgehört wurde, ein alternatives Projekt für Argentinien zu entwickeln und in den Grundzügen das neoliberale Modell beibehalten wurde. Wir müssen ein alternatives Projekt für Argentinien entwickeln. Das muss ein Projekt sein, an dem die Bevölkerung Lust hat, sich zu beteiligen.

Wie bewerten Sie die Menschenrechtsbilanz der Regierungen Kirchner?

Für mich sind die Menschenrechte vor allem die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. In Argentinien werden die Menschenrechte hingegen auf die Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Zeiten der Diktatur (1976-1983) eingegrenzt. Wenn in Argentinien offiziell über Menschenrechte geredet wird, dann nur darüber. In Bezug auf die Aufarbeitung der Diktatur war die Regierung von Néstor Kirchner die beste, die wir je hatten. Die Amnestien wurden aufgehoben, die Justiz konnte unbeschränkt gegen die Täter vorgehen. Ich konnte mir in meiner Jugend nie vorstellen, dass die Schergen der Diktatur je zur Rechenschaft gezogen werden. Die Militärs haben tausende Argentinier planmäßig ermordet, ohne dass sie dafür verurteilt wurden. Es ist für die Gesellschaft fundamental wichtig, dass sich das nun ändert. Und da hat die Regierung das einzig Richtige gemacht. Nun müssen wir diese Politik vertiefen und vor allem auch die Zeugen schützen, die von den Tätern bedroht werden. Nach 25 Jahren muss der Straflosigkeit endgültig ein Ende gesetzt werden.

* Aus: Neues Deutschland, 25. November 2008


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