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"Wir verstehen und als offene Fabrik"

Ernesto González über die Bilanz aus fünf Jahren Selbstverwaltung in Argentinien

Am Sonntag (28. Oktober) wurde Cristina Fernández de Kirchner zur Präsidentin Argeniniens gewählt. Ihr Vorgänger und Mann, Néstor Kirchner, kam 2003 während einer beispiellosen Wirtschaftskrise an die Macht, in der Arbeiter über 100 Fabriken übernahmen – so auch die Druckerei Chilavert in Buenos Aires. Mit einem der Besetzer, Ernesto González, sprach für ND Heike Demmel.



ND: Vor fünf Jahren haben Sie Ihre Fabrik, eine Druckerei, besetzt – wie kam es dazu?

González: Im Jahr 2002 war unsere Fabrik fast bankrott. Eines Tages kam der Besitzer und wollte die Druckmaschinen einpacken – was das Ende der Fabrik bedeutet hätte. Von unseren Löhnen, die seit einem Jahr ausstanden, hätten wir keinen Centavo gesehen. Unsere spontane Reaktion war, den Besitzer daran zu hindern, die Fabrik leer zu räumen: Wir besetzten sie. Um überleben und essen zu können, fingen wir an, zu arbeiten. Die Besetzung war natürlich illegal, weil wir Privateigentum antasteten! Aber in der schweren Krise in Argentinien erschien es uns und vielen in der Bevölkerung legitim.

Heute ist der Besitzer enteignet und die Arbeiter leiten die Fabrik selbst. Wie war das möglich?

Eigentlich hätten wir alles kaufen müssen, aber das hätten wir nicht gekonnt. Außerdem fanden wir es ungerecht, die ganzen krummen Schulden des Besitzers zu zahlen. Wir forderten also die Enteignung – wie viele andere Arbeiter, die ihre Fabriken besetzt hatten auch. Es folgten einige Monate der illegalen Besetzung, mit einem Räumungsversuch. Aber Nachbarn und Genossen von anderen Fabriken verteidigten uns. Ein Nachbar bot uns sogar an, ein Loch in die Mauer zu seinem Haus zu brechen, für die Bücher, die wir gerade fertiggedruckt hatten und ausliefern mussten!

Wie kam es dann zur tatsächlichen Enteignung?

Wir forderten im Stadtparlament ein Gesetz zur Enteignung. Durch viel Druck und riesige Mobilisierungen der besetzten Fabriken gelang das auch. Das Gesetz sieht vor, dass die Arbeiter die Kosten zahlen müssen, die dem Staat für die Enteignung entstehen. Dafür haben wir 20 Jahre Zeit. Dann ist die Fabrik Eigentum der Arbeiter. Allerdings gab es bisher mehrere Gesetze: das erste 2002, aber nur mit provisorischem Charakter. Das von 2004 gilt bis heute, ist aber noch nicht bestätigt. Eine recht nebulöse Situation. Deshalb hängt es von unserem Kampf ab, um zu einer erfolgreichen Lösung zu kommen.

Von einem Tag auf den anderen eine Fabrik ohne Chef: eine großartige Möglichkeit, aber es gab sicher auch Schwierigkeiten?

Natürlich, jede Menge. Wir kannten bis dahin vor allem eines: Anweisungen befolgen. Wir beherrschten zwar das Handwerk, aber nicht, die Entscheidungen eigenständig zu treffen und die Verwaltung und Buchhaltung durchzuführen. All das mussten wir uns erst nach und nach aneignen. Wir konnten aber nicht erst lernen und dann arbeiten, wir mussten das gleichzeitig tun. Das war eine große Herausforderung.

Wie sieht die Selbstorganisation bei Chilavert aus?

Unsere oberste Instanz ist die Versammlung aller Beschäftigten. Dort entscheiden wir die wichtigen Dinge. Aber wir können nicht ständig Versammlungen machen, also ist jeder Beschäftigte nach seinen Fähigkeiten für einen speziellen Bereich verantwortlich und berichtet dann in der Versammlung davon. Dort können wir alle unsere Meinung äußern, aber die Umsetzung hängt von dem jeweiligen Genossen ab. Da nicht immer alle über alles Bescheid wissen, gab es schon verschiedene Krisen, die viel Kraft gekostet haben.

Ist nach fünf Jahren der Anfangsenthusiamus verflogen?

Im Gegenteil. Klar spüren alle den ökonomischen Druck, wollen manche etwas mehr Geld verdienen, ihre Familien besser ernähren. Aber es gibt auch den sozialen Anspruch bei Chilavert: Wir produzieren nicht nur, sondern verstehen uns als offene Fabrik. Bei uns finden soziale und kulturelle Aktivitäten statt. Oft ist die Frage: Wie viel Zeit widme ich diesen und wie viel der Arbeit? Denn wenn die Druckerei nicht funktioniert, geht das Projekt den Bach runter. Aber wenn wir uns nur auf die Produktion konzentrierten, wären wir nur eine normale Druckerei und viele würden uns aus ihrem politischen Bewusstsein streichen.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Oktober 2007


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