Gerechtigkeit am Tatort
Argentinien: In früherem Folterzentrum bislang größter Prozeß gegen Militärdiktatur *
In Buenos Aires hat am Mittwoch (Ortszeit) ein großangelegter Prozeß zu den Verbrechen während der argentinischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 begonnen. Fast 800 Fälle werden in dem auf zunächst zwei Jahre angesetzten Verfahren verhandelt, in dem rund 900 Zeugen angehört werden sollen. Unter den 68 Beschuldigten befinden sich acht Piloten der sogenannten Todesflüge, bei denen Hunderte Oppositionelle aus Flugzeugen des argentinischen Militärs bei lebendigem Leib ins Meer geworfen wurden. Zu ihnen gehört auch der argentinisch-niederländische Pilot Julio Alberto Poch. Der 59jährige war im September 2009 in Spanien festgenommen und nach Argentinien ausgeliefert worden. Auch der frühere argentinische Finanzminister ist angeklagt, weil er bei der Folterung eines Mannes anwesend gewesen sein soll, dem ein Anschlag auf ihn vorgeworfen worden war. Außerdem auf der Anklagebank sitzen die 2011 bereits zu lebenslanger Haft verurteilten früheren Juntaoffiziere Jorge »Tigre« Acosta und Alfredo Astiz, der als »blonder Todesengel« bekannt wurde, sowie dreißig weitere frühere Militärs. Ihnen wird insbesondere die Entführung und Tötung der 17jährigen Schwedin Dagmar Hagelin vorgeworfen, die mit einer Guerillakämpferin verwechselt und in das Folterzentrum ESMA, einem Ausbildungszentrum der argentinischen Kriegsmarine, verschleppt worden war.
In demselben Gebäude, das erst 2004 unter der Regierung des damaligen Präsidenten Néstor Kirchner dem Zugriff der Militärs entzogen und zu einem Zentrum für Erinnerungsarbeit und zur Verteidigung der Menschenrechte gemacht wurde, findet nun der bislang größte Prozeß zu den Verbrechen der Diktatur statt. Vor dem Haus versammelten sich Aktivisten, die Gerechtigkeit für die Opfer forderten. Der Menschenrechtsanwalt Rodolfo Yanzón zeigte sich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur IPS zufrieden darüber, daß so viele Fälle gemeinsam verhandelt werden, während es zuletzt mehrere Verfahren gegen einzelne Beschuldigte gegeben hatte. Aktivisten hatten kritisiert, daß durch diese Einzelprozesse, in denen es um die individuelle Schuld einzelner Militärs ging, die Gesamtdimension der Verbrechen unter der Diktatur verlorengingen. Zudem dürfe es den Opfern nicht zugemutet werden, ihre Aussagen mehrfach wiederholen zu müssen, sagte Yanzón.
So hat der heute 73jährige und in Miami lebende Mario Villani bereits mehrfach in Prozessen aussagen müssen, in denen es um seine Entführung 1977 ging, nach der er drei Jahre und acht Monate lang in fünf Folterzentren – zuletzt in der ESMA – mißhandelt wurde. Schon kurz nach dem Ende der Diktatur hatte er seine Aussagen vor einer damals eingerichteten Untersuchungskommission gemacht, und erneut bei den in den 80er Jahren geführten Verfahren gegen die wichtigsten Folterer der Diktatur, die damals durch die Amnestiegesetze abgebrochen wurden. Auch bei Verfahren, die in Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland und Israel geführt wurden, war Villani als Zeuge geladen. Trotz solcher Belastungen begrüßte er gegenüber IPS die Eröffnung des Verfahren als »einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Gerechtigkeit«. Er sei stolz, zu dessen Gelingen beitragen zu können. Der Kampf müsse aber weitergehen, »solange es auf der Welt noch Regime gibt, die zur Folter greifen müssen, um an der Macht zu bleiben«.
Während der Militärdiktatur in Argentinien wurden etwa 30000 Menschen ermordet oder verschwanden spurlos. Allein in der Marinetechnikerschule ESMA wurden 5000 Gefangene gefoltert, nur eine Handvoll überlebte. Anfang der 90er Jahre wurde unter dem damaligen Staatschef Carlos Menem mit dem »Schlußpunktgesetz« eine Amnestie für die Täter verfügt. Offiziere konnten sich zudem auf »Befehlsnotstand« berufen, um einer Bestrafung zu entgehen. Diese Bestimmungen wurden 2003 vor Gericht für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben.
In der Folge gab es allein zwischen 2008 und Juli 2012 mehr als 60 Prozesse zu Verbrechen während der Diktatur, die in 270 Schuldsprüchen gipfelten.
* Aus: junge Welt, Freitag, 30. November 2012
Mammutprozess in Argentinien
Bisher größtes Verfahren wegen Menschenrechtsverbrechen gegen Diktatur-Militärs
Von Jürgen Vogt, Buenos Aires **
In Argentinien hat der bisher größte
Prozess gegen Militärangehörige wegen
Menschenrechtsverbrechen während
der letzten Diktatur begonnen.
Vor dem fünften Bundesgericht in
der Hauptstadt Buenos Aires müssen
sich seit Mittwoch 68 Angeklagte
wegen Entführung, Folter
und Verschwindenlassen von Personen
verantworten. Verhandelt
werden die Verbrechen an 798
Personen, die ihren Ausgang in der
Marine-Mechanikerschule ESMA
in Buenos Aires nahmen. Unter
den Opfern sind auch die beiden
französischen Nonnen Alice Donom
und Léonie Duquet. Die ESMA
diente als geheimes Gefangenen-
und Folterlager.
Vor Gericht stehen erstmals
vier Piloten der sogenannten Todesflüge.
Dabei wurden Gefangene
aus Flugzeugen und Hubschraubern
in den Río de la Plata
oder ins offene Meer geworfen.
Während des Prozesses sollen
rund 900 Zeugen gehört werden,
die Verhandlungsdauer ist auf 24
Monate angesetzt. Abermals müssen
sich der als »blonder Todesengel
« berüchtigte Kapitän Alfredo
Astiz und der frühere Korvettenkapitän
Jorge Acosta verantworten.
Beide wurden bereits im
Oktober vergangenen Jahres in einem
vorherigen ESMA-Prozess zu
lebenslanger Haft verurteilt.
Die ehemalige Mechanikerschule
ist heute eine Gedenkstätte.
Menschenrechtsorganisationen
schätzen, dass in der ESMA mehr
als 5000 Menschen gefoltert wurden,
die später zu den verschwundenen
Opfern der Diktatur
zählten. Der Prozess wurde möglich,
nachdem der Oberste Gerichtshof
im Juni 2005 die Aufhebung
der Amnestiegesetze bestätigte
und damit den Weg für die
juristische Aufarbeitung der
schweren Menschenrechtsverbrechen
frei machte.
Das Militär hatte am 24. März
1976 die Macht übernommen.
Während der bis 1983 dauernden
Diktatur wurden nach einem offiziellen
Bericht mehr als 10 000
Menschen entführt und ermordet,
Menschenrechtler beziffern die
Zahl der Opfer auf 30 000. Darunter
sind viele »Verschwundene
«. Nach Angaben der Organisation
CELS wurde seit der Aufhebung
der Amnestiegesetze gegen
insgesamt 1943 Personen wegen
Menschenrechtsverbrechen
ermittelt. 302 Angeklagte wurden
inzwischen zu teilweise hohen
Haftstrafen verurteilt, 24 wurden
freigesprochen. Derzeit laufen 296
Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren.
759 Angeklagte befinden
sich noch in Untersuchungshaft.
** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 29. November 2012
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