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Argentinien: Kirchner renoviert Justiz- und Staatswesen

Ungebrochene Zustimmung für den Präsidenten

Von Antje Krüger, Buenos Aires

Auch 2004 setzt Argentiniens Präsident Néstor Kirchner überraschende Akzente. Er berief die international angesehene Richterin Carmen Argibay an den Obersten Gerichtshof. Die Zustimmung der Bevölkerung zu Kirchner dürfte dies weiter erhöhen.

Eigentlich sollte eine unabhängige Justiz eine Selbstverständlichkeit sein. Im Argentinien der Vergangenheit konnte davon oft keine Rede sein. Der frühere Präsident Carlos Menem (1989-1999) hatte die Zahl der obersten Richter von fünf auf neun erhöht und die Berufenen waren zufällig Juristen seines Vertrauens. Damit hatte er sich die so genannte automatische Mehrheit gesichert, dank der er auf eine stets in seinem Sinne ausfallende Rechtsprechung der obersten Instanz vertrauen konnte. Auch das trug zur Politikverdrossenheit der Argentinier bei, die noch in den Jahren 2001/2002 mit dem Spruch "Sie sollen alle abhauen" die gesamte politische Klasse zum Teufel wünschten.

Das hat sich seit dem Amtsantritt des Präsidenten Néstor Kirchner im Mai 2003 geändert. Und Kirchner punktete bei der Bevölkerung gleich nach Jahresbeginn 2004 erneut: mit der Berufung von Carmen Argibay ans Oberste Gericht in Buenos Aires. Wenn der Präsident ein ihm höriges Gericht wolle, sei mit ihr nicht zu rechnen, kommentierte die bisher am Strafgerichtshof in Den Haag tätige Juristin ihre Berufung. Aber Kirchner scheint ernsthaft eine unabhängige Justiz und eine Erneuerung des Staates zu wollen. Schon drei der vier Menem-Juristen mussten abdanken, und dem vierten dürfte dieses Jahr das gleiche Schicksal dräuen.

Der gefeierte Held der Wiederauferstehung des Landes ist zweifelsohne Präsident Néstor Kirchner. Der Provinzpolitiker aus Feuerland, mit nur 22 Prozent der Stimmen im Mai 2003 gewählt, vereint seit einem halben Jahr ungebrochen knapp 90 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Der Schritt zu einer transparenten Politik garantiert Kirchner die Unterstützung und Sympathie der Argentinier. Welche Ausmaße die Korruption angenommen hatte, zeigte ein kürzlich aufgedeckter Bestechungsskandal im Senat aus dem April 2000. Der ehemalige Sekretär des Senats, Mario Pontaquarto, gestand jetzt, insgesamt fünf Millionen US-Dollar Schmiergelder aus den Reservefonds des Geheimdienstes SIDE an Senatoren der Peronistischen Partei (PJ) sowie ein Mitglied der Radikalen Partei (UCR) gezahlt zu haben. Damit wurde ihre Zustimmung zu einem Arbeitsgesetz erkauft, das der Internationalen Währungsfonds (IWF) gefordert hatte. Es führte zu einer weiteren Verschlechterung der ohnehin desaströsen Arbeitsbedingungen.

Der Skandal an sich ist seit drei Jahren ein offenes Geheimnis, das wie alle Korruptionsfälle nur noch mit resignierendem Schulterzucken registriert wurde. Nun jedoch könnten die Ermittlungen bis in die höchsten Ebenen führen, denn Expräsident Fernando De la Rúa wird beschuldigt, den Auftrag zu diesem Handel gegeben zu haben.

Die beiden dringendsten Herausforderungen im Jahr 2004 werden jedoch die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Eindämmung der Kriminalität sein. Denn auch wenn ein leichter Aufschwung spürbar ist, bleiben große Teile der Bevölkerung davon nach wie vor ausgeschlossen. Noch immer leben tausende Argentinier vom Müll der anderen und leiden Kinder an Unterernährung - in einem Land, das zehn Mal mehr Nahrungsmittel produziert, als für die Versorgung seiner Bevölkerung nötig wären. In der Provinz Buenos Aires kommt es im Schnitt zu einer Entführung pro Tag. Beteiligt an diesen Verbrechen sind Mitglieder der Provinzpolizei, die bekannt sind für ihre mafiösen Taktiken und die ihrerseits häufig von Politikern gedeckt werden. Es halten sich hartnäckig Gerüchte, wonach die Entführungen missbraucht werden, um die Position des Präsidenten zu untergraben, denn in der Provinz hat Eduardo Duhalde, Intimfeind von Kirchner, das Sagen.

Das Jahr 2004 wird also zur Herausforderung für Kirchner: Denn was sich heute als Hoffnung manifestiert, kann morgen zur Forderung werden, wenn sich nicht schnell Ergebnisse zeigen.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Januar 2004


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