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"Für uns geht es darum, die Bevölkerung zu organisieren"

Gespräch mit Victoria Donda. Über ihre Geschichte als Kind von "Verschwundenen", die Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur und Perspektiven der linken Opposition

Victoria Donda (geb. 1977) sitzt für die linke »Bewegung Freie des Südens« im argentinischen Parlament. Sie engagiert sich für die Opfer der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983), sie selbst ist Tochter von »Verschwundenen«. Ihr Buch »Mein Name ist Victoria: Verschleppt von der Militärjunta. Ein argentinisches Familienschicksal« erschien im Münchner Knaur-Verlag

In Ihrem autobiographischen Buch »Mein Name ist Victoria« erzählen Sie die Geschichte von Analía, die mit 23 Jahren erfährt, daß sie eigentlich Victoria heißt und ihre wirklichen Eltern von den Schergen der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) ermordet wurden. Sie sind in einer fremden Familie aufgewachsen, Ihre Eltern haben Sie nie kennengelernt. Wie haben Sie von Ihrer wahren Identität erfahren?

Im August 2003. Die Organisation der Großmütter der Plaza de Mayo hatte mich gefunden. Die Großmütter sind eine Gruppe von Frauen, die nach den während der Diktatur entführten Kindern suchen. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht mehr erinnern, was ich dachte, als sie sagten, ich sei Tochter von »Verschwundenen«. Es war ein sehr großer Schock.

Wie haben die Großmütter Sie ausfindig gemacht? Außer der Familie, bei der Sie aufwuchsen, wußte fast niemand von Ihrem Schicksal?

Während des Volksaufstandes 2001 wurden im ganzen Land Nachbarschaftsvereinigungen gegründet, in denen die Menschen sich selbst versorgt und politisch diskutiert haben. Während einer Versammlung in meinem Stadtteil hat mich ein alter Freund meiner Eltern erkannt. Ihm fiel die Ähnlichkeit mit meiner Mutter auf. Er wandte sich an die Großmütter und sie begannen mit ihren Recherchen. Sie haben Bilder von mir mit Jugendfotos meiner Mutter verglichen.

Ihr Schicksal war keine Ausnahme. Wie viele Fälle von Kindesraub sind bekannt?

Schätzungen zufolge sind etwa 500 Kinder von den Militärs entführt und in andere Familien gebracht worden, lediglich 100 wurden bisher identifiziert. Es handelt sich also keineswegs um Einzelfälle – den Entführungen lag ein brutales System zugrunde. Die Generäle wollten denjenigen, die sie bekämpften, das Heiligste nehmen, was sie hatten: Und das waren ihre Kinder. Sie sollten aufgezogen und zu einem Teil ihres eigenen Projekts gemacht werden.

Was wissen Sie über Ihre Eltern?

Während des ersten Jahres wollte ich überhaupt nichts über meine Eltern wissen. Wenn man eine Person nicht kennt, kann man sie auch nicht vermissen – und ich hatte Angst davor, meine Eltern zu vermissen. Erst als ich zu begreifen begann, daß ich das, was ich heute bin, nur bin, weil sie mir das Leben geschenkt haben, fing ich mit den Recherchen an. Meine Mutter und mein Vater waren Guerilleros. Sie gehörten zur Organisation der Montoneros. Während der 70er Jahre waren die Montoneros mit zeitweise etwa 5000 aktiven Mitgliedern die größte der damals tätigen Guerillagruppen. Sie rekrutierten sich hauptsächlich aus den Universitäten und kämpften gegen die Militarisierung des Staates und die Rückkehr des ehemaligen Präsidenten Juán Domingo Perón. Mariel Peréz, meine Mutter, hatte einen starken Charakter, sie war eine sehr fröhliche Person. Sie wurde im März 1977 hochschwanger entführt und in das Folterzentrum der Militärschule ­ESMA gebracht. Dort bin ich geboren. Mein Vater José Maria Donda war zwei Jahre jünger als sie, trotz seiner schüchternen Art wurde auch er Montonero. Von seiner Entführung ist fast nichts bekannt. Man vermutet, daß ihn die Luftwaffe im Mai desselben Jahres geholt hat.

Ich erzähle in meinem Buch aber nicht nur meine Geschichte oder die meiner Eltern. Das Buch versucht, eine andere Perspektive auf die Geschichte meines Landes in den vergangenen 30 Jahren zu eröffnen. Es ist geschrieben aus dem Blickwinkel einer Generation junger Menschen, die sich niemals den Konsumversprechungen der neoliberalen 90er Jahre hingegeben und niemals an das vielbeschworene Ende aller Utopien geglaubt hat. Somit geht es auch über die Geschichte der Diktatur hinaus. Denn der einzige Zweck, 30000 Menschen »verschwinden« zu lassen und in über 500 geheimen Zentren zu foltern, war es, ein ökonomisches Modell vorzubereiten, daß 1989 mit der Wahl von Carlos Menem eingeführt wurde und bis heute noch intakt ist.

Sie sagten, daß Sie beim argentinischen Volksaufstand von 2001 dabeiwaren. Dessen Forderung war: »Sie sollen alle abhauen!«. Was ist davon übriggeblieben, wie viele der alten Eliten sind noch immer da?

2001 hatten wir als Bewegung ein großes Problem. Die zentrale Forderung war, »alle sollen abhauen«. Aber natürlich mußte es jemanden geben, der das Land regiert, wenn die alten Eliten weg sind. Uns ging es nicht darum, den Staat abzuschaffen. Wir gingen auf die Straße, um ein korruptes Regime rauszuwerfen. Doch es ist uns nicht gelungen, die kurzzeitig freigewordenen Institutionen zu erobern. Wir hatten niemanden, den wir dort hineinsetzen konnten. Deshalb konnten viele wiederkommen. Gleichzeitig sind aber auch viele der Leute, die damals mit uns auf die Straße gingen, heute im Parlament. Beispielsweise als Abgeordnete der »Bewegung Freie des Südens« (MLS), der ich angehöre. Wir werden nie Teil der traditionellen Politik sein, nur weil wir einen Sitz im Congreso de la Nación haben.

Trotzdem haben sich viele der Bewegungen, die damals auf die Straße gingen, sehr schnell der 2003 gewählten Regierung um Néstor Kirchner angenähert? Warum?

Weil die Regierung über die ökonomischen Ressourcen verfügt und sie verwaltet. Und wenn eine soziale Bewegung nicht über eine starke und konstante ökonomische Basis verfügt, braucht sie Geld, um zu überleben.

Können Sie ein Beispiel geben?

Die Föderation für Land und Wohnraum (FTV) war eine der wichtigsten Arbeitslosenorganisationen des Landes und konnte um das Jahr 2001 herum Zehntausende Menschen mobilisieren. Ihr Vorsitzender Luis D’Elia näherte sich nach Kirchners Wahl sehr schnell der Regierung an. 2004 wurde mit der Umbenennung der FTV in die Transversale Bewegung eine Art Vorhutorganisation der Regierungspartei Frente Para la Victoria (Front für den Sieg, FPV) geschaffen. Heute hat sie fast keine Mitglieder mehr. Ihr gelang es nicht, mit ihrer Arbeit das Leben ihrer Mitglieder zu verbessern.

2007 trat Cristina Fernández de Kirchner die Nachfolge ihres Mannes an. Wie steht die MLS zu deren Regierung?

Wir sind in der Opposition. Anfangs haben wir die Regierung noch unterstützt, seit etwa anderthalb Jahren tun wir das nicht mehr.

Warum?

Als Néstor Kirchner im Jahr 2003 überraschend gewählt wurde, kündigte er an, die ökonomische Struktur des Landes zu verändern. Dazu hat er alle progressiven Kräfte zusammengerufen, um in der neu gegründeten FPV mitzuarbeiten. Nachdem die FPV die Parlamentswahlen 2005 gewonnen hat, begann er auch, Teile des rechten Flügels der während der neoliberalen 90er Jahre regierenden Peronistischen Partei (PJ) in das Projekt zu integrieren, so daß die Grenzen zwischen der PJ und der Regierungspartei fließend wurden. Inzwischen ist von der FPV nicht mehr viel übrig, sie ist nur noch ein Stempel. Deshalb sind wir in die Opposition gegangen. Mit den Gruppierungen, die während der 90er Jahre den neoliberalen Kurs angeführt haben, gibt es für uns kein gemeinsames Projekt.

Aber bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur sind Fortschritte erzielt worden, z.B. die im Dezember vergangenen Jahres begonnenen Verfahren gegen 17 hohe Regimefunktionäre.

Ohne Frage – was die Ahndung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Militärs angeht, hat die Regierung Néstor Kirchner den richtigen Weg eingeschlagen. Die Amnestie wurde aufgehoben, die Justiz kann nun uneingeschränkt gegen die Täter vorgehen. Aber dieser Weg ist noch lang. Sehen Sie: Es gibt bis heute 40 Urteile gegen Angehörige der Diktatur, aber 30000 »Verschwundene«. Da fehlt noch viel. Die Diktatur bestand ja nicht nur aus Militärs, die heute teilweise vor Gericht stehen. Sie hatte Unterstützer in den Konzernen, in der Kirche und den Parteien. Gegen diese zivile Basis werden aber keine Klagen geführt.

Die Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist aber nicht zu verwechseln mit der Menschenrechtspolitik. Auf diesem Gebiet hat die Regierung versagt. Bei den Menschenrechten, für die meine Eltern kämpften, ging es um das Recht auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe. Und solange es Personen in Argentinien gibt, die davon ausgeschlossen bleiben, werden die Menschenrechte verletzt.

Aber sowohl Armut wie auch Arbeitslosigkeit sind in Argentinien in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen.

Noch immer leben etwa 30 Prozent der Argentinier in Armut, und die soziale Spaltung hat sogar zugenommen. Um das zu ändern, wäre es aber nötig, einen wirklichen Umverteilungsprozeß in Gang zu setzen. Doch vor diesem Schritt drückt sich die Regierung. Es geschieht sogar das Gegenteil. Nehmen wir zum Beispiel das Steuersystem. Das ist bei uns noch ungerechter als in Europa. Während die indirekten Steuern sehr hoch sind, bleiben die Sätze für Einkommens- oder Körperschaftssteuern vergleichsweise niedrig – diejenigen, die ohnehin schon reich sind, werden so immer reicher, sie zahlen die geringsten Steuern. Beispielsweise liegt die Mehrwertsteuer, die arme Menschen überdurchschnittlich belastet, bei 21 Prozent.

Was wäre die Konsequenz?

Wir fordern z. B., daß alle Güter des täglichen Konsums wie Milch, Fleisch oder Brot von der Mehrwertsteuer befreit werden müssen. Außerdem brauchen wir eine Steuer für Gewinne aus Spekulationsgeschäften. Jeder Kioskbesitzer zahlt seine Einkommenssteuer. Wer aber Millionen am Aktienmarkt verdient, bezahlt keinen centavo. Das ist noch ein Geschenk der Militärdiktatur für den von ihr protegierten Finanzsektor.

Wie sieht es auf anderen Politikfeldern aus?

Natürlich gibt es Situationen, in denen wir die Regierung unterstützen, beispielsweise im Konflikt mit der Agraroligarchie während der vergangenen beiden Jahre. Oder im Fall des neuen Mediengesetzes, das endlich die Regelung aus der Diktatur ersetzt, oder bei der Verstaatlichung der privaten Rentenversicherung Ende 2008. Aber das heißt nicht, daß wir Teil der Regierung sind. Wir sind kein Teil dieses Projektes, weil es nicht mehr die Interessen des Volkes vertritt.

Ihre Partei will also einen radikaleren Wandel als die Regierung. Wie kann der durchgesetzt werden? Ist die Linke außerhalb der Regierung nicht viel zu schwach für ein eigenes Projekt?

Wir haben zwei Abgeordnete. Gemeinsam mit anderen linken Parteien kommen wir auf elf der 257 Sitze im Parlament. Sicherlich kann man da von keiner Rückeroberung sprechen. Aber eins ist klar: Vor zehn Jahren war nicht vorstellbar, daß Armenviertel wie mein Wahlkreis Dock Sur aus dem ehemaligen Industriegürtel um Buenos Aires linke Abgeordnete im Parlament stellen.

Für uns geht es darum, die Bevölkerung zu organisieren. Das fängt in den Stadtvierteln an und geht bis hin zum Kongreß. Der Kampf in den Institutionen kann nur erfolgreich sein, wenn er gemeinsam mit dem Kampf in den Vierteln geführt wird. Wir haben unsere Basis in drei Sektoren: in den Armenvierteln, bei den Frauen und bei den Jugendlichen und Studenten.

Die Wahlen zu Teilen des Kongresses im Juni vergangenen Jahres waren ein großer Erfolg für die rechte Opposition. Die Regierung verlor sowohl im Parlament wie im Senat ihre Mehrheit. Läuft Ihre Politik Gefahr, der rechten Opposition in die Hände zu spielen?

Nein, das vorherrschende Bild einer progressiven Linksregierung auf der einen Seite und einer neoliberalen Rechten auf der anderen Seite ist zu einfach. Trotz des Wahlerfolges ist die Rechte nicht so stark, wie es auf den ersten Blick scheint. Vielmehr ist sie sehr fragmentiert, während sich die Regierung nach rechts bewegt. Innerhalb der rechten Opposition gibt es etwa sechs potentielle Präsidentschaftskandidaten, die sich gegenseitig die Stimmen streitig machen. Es kann nicht die Aufgabe der Linken sein, unsere gesamten Kräfte darauf zu verwenden, eine Regierung, die immer schwerer einzuschätzen ist, im Amt zu halten, ohne jemals die Möglichkeit wahrgenommen zu haben, eine eigene Kraft aufzubauen.

Schauen Sie, was in Chile geschehen ist. Dort hat der rechte Milliardär Sebastián Piñera im Januar die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Sowohl die Kommunistische Partei als auch der gemäßigte autonome Kandidat Marco Enríquez-Ominami sind mit einer eigenen Liste angetreten. Ist es jetzt deren Schuld, daß das Noch-Regierungsbündnis Concertación der scheidenden Präsidentin Michelle Bachelet verloren hat? Nein. Dafür ist allein die Concertación verantwortlich. Sie hat über Jahrzehnte die Interessen des Volkes verraten. Deshalb ist es auch nicht unsere Schuld, wenn Cristina Fernández de Kirchner die Wahlen 2011 verliert, sondern das ist allein der Regierung zuzuschreiben. Sollte sie irgendwann ensthaft linke Reformen anstreben, haben wir immer noch die Möglichkeit, sie dabei zu unterstützten.

Warum hat die Linke in Argentinien historisch immer so große Probleme mit dem peronistischen Lager gehabt?

Weil die Linke und deren traditionelle Parteien niemals den Peronismus verstanden haben. Er ist in Argentinien kein Phänomen der Rechten. Er ist die Eroberung bestimmter Privilegien für das Volk. Auch in unseren Reihen gibt es viele Peronisten. Als Perón an die Regierung kam, zunächst 1943 als Arbeitsminister und 1946 als Präsident, hat er es verstanden, die einfachen Landarbeiter, die zu Millionen in die Städte strömten, für seine Politik der Umverteilung zu begeistern. Die kommunistischen und die sozialistischen Parteien waren immer auf das zahlenmäßig wenig entwickelte Industrieproletariat ausgerichtet. Wenn die sozialistischen Gewerkschaften die Internationale sangen, verstand die große Mehrheit der Arbeiter kein Wort. Sie sangen die Nationalhymne. Angesprochen gefühlt haben sie sich lediglich durch Perón. Darunter leiden wir noch immer. Aber ich glaube, daß es langsam möglich wird, mit den jüngeren Generationen, die die schlechte Politik der peronistischen Partei durchschauen, eine Organisation außerhalb von ihr zu gründen.

Die »Bewegung Freie des Südens« ist eine linke argentinische Partei, die 2006 aus verschiedenen sozialen Bewegungen hervorgegangen ist. Im selben Jahr wurde sie mit zwei Abgeordneten ins argentinische Parlament gewählt. Sie gehört zur linken Opposition gegenüber der Regierung um Cristina Fernández de Kirchner.

Interview: Johannes Schulten

* Aus: junge Welt, 27. Februar 2010 (Wochenendbeilage)


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