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"Die Bewegung der Piqueteros ist sehr zersplittert"

Ein Teil der argentinischen Erwerbslosenbewegung hofft auf Regierung, ein anderer Teil setzt auf Arbeiterklasse - Ein Gespräch mit Roberto Madino

Roberto Madino aus Buenos Aires ist Aktivist der "Movimiento Teresa Rodriguez", einem Flügel der argentinischen Erwebslosenbewegung Piqueteros. In der vergangenen Woche war er in Deutschland, um an einem Kongreß zum Thema Grundeinkommen und an einem Aktionstag gegen Zwangsumzüge in Berlin-Neukölln teilzunehmen.
Das Gespräch, das wir im Folgenden dokumentieren, wurde in der "jungen Welt" veröffentlicht. Die Fragen stellte Wladek Flakin.



Frage: Die Erwerbslosenbewegung Piqueteros in Argentinien hat eine Zeitlang vor allem durch Militanz und brennende Barrikaden für Schlagzeilen gesorgt. Wie ist die Situation heute?

Die Piqueteros sind sehr zersplittert. Am Anfang gab es etwa zehn starke Gruppierungen innerhalb der Bewegung, heute sind es vierzig bis fünfzig. Darunter sind nur wenige Organisationen, die trotz rückläufiger Mitgliederzahlen weiter am ursprünglichen Projekt arbeiten. Wir haben unseren Kampf nie auf die Forderungen nach genügend Lebensmitteln oder Arbeit beschränkt. Wir, die am Anfang in der Bewegung aktiv waren, sahen unsere Aufgabe darin, den radikalsten und dynamischsten Teil der Bevölkerung zu organisieren. Es ging darum, eine schlagkräftige Organisation für die soziale Revolution zu schaffen.

F: Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

Wir versuchen, eigene Produktionsstätten zu schaffen, was nicht einfach ist. Wir haben vier Betriebe, die Wohnungen bauen. Dann gibt es drei Kooperativen, die bestimmte Viertel mit Trinkwasser versorgen. Uns gehören eine Schneiderei und kleinere Betriebe wie Bäckereien und Gärtnereien. Dann gibt es noch Kommissionen, die zum Thema Bildung oder Gesundheit arbeiten. Sie organisieren zum Beispiel mit Hilfe der Kubaner medizinische Präventions- oder Alphabetisierungskampagnen.

F: Wo liegen die Schwächen in den Betrieben?

Das größte Problem ist der immer wieder aufkommende Individualismus. Wenn wir eine Kooperative gründen, sind sich erst mal alle einig, daß alles allen gehört und der Gewinn gleichermaßen unter allen verteilt wird. Einigkeit besteht anfangs auch darüber, daß ein Teil des Gewinns für soziale Projekte der Bewegung verwendet wird. Aber wenn das Projekt läuft und die ersten Gewinne reinkommen, tauchen Meinungen auf, den Betrieb in ein privates Unternehmen zu verwandeln. In der Schneiderei gab es zum Beispiel kürzlich die Diskussion mit Kollegen, die mehr Geld verdienen wollten, weil nur sie bestimmte Maschinen bedienen können. Wir versuchen, solche Fragen in der Diskussoion zu klären. In einigen Fällen akzeptieren die Kollegen dann, daß es keine Ungleichheiten in den Kooperativen geben kann. In anderen waren die Differenzen zu groß, und die Bewegung mußte diese Kooperativen neu organisieren. Das Problem in der Schneiderei konnten wir zum Glück lösen. Wir haben klargemacht, daß die Werkstatt eine Einheit sein muß.

F: Das Problem wurde gelöst, in dem man das einfach so gesagt hat?

Natürlich nicht. Wir haben die Kollegen daran erinnert, wie das alles entstanden ist. Alles, was wir haben, ist ein Produkt des Kampfes der ganzen Bewegung, und nicht derjenigen, die diese Maschinen bedienen. Die Erfahrung ist anders als in Rußland oder Kuba, da die Macht in Argentinien immer noch in den Händen der Großbourgeoisie ist. Unsere Kooperativen sind dem kapitalistischen Markt unterworfen. Selbst besetzte Großbetriebe wie die Keramikfabrik Zanon, die mit Spitzentechnik ausgestattet ist, entkommen der Logik der Marktwirtschaft nicht.

F: Wie ist es der Regierung gelungen, Teile der Bewegung auf ihre Seite zu ziehen?

Größere Gruppen innerhalb der Erwerbslosenbewegung vertreten die Position, daß es in Argentinien eine nationale Bourgeoisie gibt, die ein unabhängiges nationales Projekt anstrebt. Präsident Néstor Kirchner kündigte bei seinem Amtsantritt an, die nationale Bourgeoisie rekonstituieren zu wollen. Deshalb verteidigen diese Gruppen, deren Vorschläge nie ganz andere als die von Kirchner waren, die Regierung. Die gesamte Arbeiterklasse will die nationale Unabhängigkeit. Die Frage ist: Kann sie von der Bourgeoisie erlangt werden, oder kann das nur die Arbeiterklasse vollziehen? Wir glauben, daß die argentische Bourgoeisie keine fortschrittliche Rolle spielen kann. Sie ist ein Juniorpartner der imperialistischen Mächte, aber sie agiert auch selbst imperialistisch. So gibt es argentinische Konzerne, die Arbeitskraft in Peru, Mexiko und anderen Ländern ausbeuten. Es ist schwierig, ein Land zu finden, in dem die Bourgeoisie nicht in die imperialistische Weltordnung integriert ist.

* Aus: junge Welt, 3. Mai 2006


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