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Megaprozeß in Buenos Aires

26 Jahre nach Ende der Diktatur kommen in Argentinien viele Militärs vor Gericht

Von Andreas Knobloch *

Es läuft derzeit in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires der erste sogenannte Megaprozeß wegen Verbrechen der Armee während der Militärdiktatur (1976--83). Es ist der umfangreichste Prozeß gegen führende Offiziere seit 1985 und ein längst überfälliger, wichtiger Schritt für die Aufarbeitung der zahlreichen Verbrechen der Militärjunta.

Als erster muß sich in dem Verfahren der 82jährige frühere General Jorge Carlos Olivera Róvere verantworten. Ihm werden Folter, Freiheitsberaubung sowie Verschwindenlassen von Menschen in 120 Fällen und vierfacher Mord vorgeworfen. Bei letzterer Anklage handelt es sich um den Fall von vier uruguayischen Flüchtlingen -- die beiden Abgeordneten Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez sowie Rosario Barredo und William Whitelaw -- die am 18. Mai 1976 aus ihren Hotels verschleppt und deren Leichen drei Tage später in einem abgestellten Auto entdeckt wurden. Olivera war 1976 Vizekommandant des Ersten Heereskorps. Als Chef der »Subzone Bundeshauptstadt« waren ihm die geheimen Gefangenenlager des Heeres in Buenos Aires unterstellt. Der Chef des Ersten Heereskorps, Carlos Suárez Mason, erlag 2005 im Alter von 81 Jahren einem Herzinfarkt, ohne zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.

Trotz der langen Liste der ihm zur Last gelegten Verbrechen wäre es auch Olivera fast gelungen, unbestraft zu bleiben. So stand er nach Ende der Diktatur 1983 zwar vor Gericht, doch die beiden Amnestiegesetze der Regierung Raúl Alfonsín aus den Jahren 1986 und 1987 ermöglichten die Begnadigung Oliveras 1990 durch den damaligen Präsidenten Carlos Ménem. Erst Néstor Kirchner, Vorgänger und Ehemann der argentinischen Präsidentin Cristina Kirchner, setzte die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit wieder in Gang. Im August 2003 hob das argentinische Parlament das Schlußpunkt- und das Befehlsgehorsamsgesetz auf. Am 14. Juni 2005 erklärte der oberste Gerichtshof die beiden Amnestiegesetze schließlich für verfassungswidrig und bestätigte damit die Entscheidung der Parlamentarier. Damit war der Weg erneut frei für Klagen gegen die ehemaligen Mitglieder des Militärregimes. Oliveras Fall wurde 2003 neu eröffnet; seit 2004 saß er in Untersuchungshaft, aus der er 2007 gegen Kaution entlassen wurde.

Der Prozeß, der aufgrund der zahlreichen geladenen Zeugen wohl Monate dauern wird, begann am 10. Februar mit einem Eklat, als der vorsitzende Richter Daniel Obligado sämtliche Pressefotografen ausschloß. Bereits zuvor hatte ein Fernsehsender auf Anweisung der Richter seine Kameras abbauen müssen. Die Entscheidung verstößt gegen die vom obersten Gericht verfügten Bestimmungen zur öffentlichen Berichterstattung von Prozessen, nach denen Fotos und Fernsehbilder als Garantien für Transparenz und Öffentlichkeit zugelassen werden sollen. Zudem verweigerten die Richter den Mitgliedern der Menschenrechtsgruppe »Abuelas de Plaza de Mayo«, die sich aus Angehörigen von Opfern der Militärdiktatur zusammensetzt, das Schwenken ihrer berühmten weißen Tücher mit der Begründung, diese seien unangemessene Symbole. Am zweiten Prozeßtag, dem 11. Februar, wurde unter Auflagen ein Fotograf zugelassen.

Der Staatssekretär für Menschenrechte im Justizministerium, Eduardo Luis Duhalde, der beim Prozeßauftakt anwesend war, versicherte, daß die gegen Olivera vorliegenden Beweise überwältigend seien und eine Bestrafung sicher. Er hoffe angesichts der Verbrechen auf das maximale Strafmaß. Aufgrund des hohen Alters des Angeklagten ist es jedoch höchst unwahrscheinlich, daß er noch einmal ins Gefängnis muß.

In einer zweiten Etappe des aktuellen Prozesses, die im Mai beginnen wird, müssen sich fünf weitere ehemalige Offiziere vor Gericht verantworten. Die Generäle Teófilo Saa und Rodolfo Whener, die Oberste Humberto Lobaiza und Bernardo Menéndez, sowie Oberstleutnant Felipe Alespeíti gehörten wie Olivera der Spitze des Ersten Heereskorps an und werden maßgeblich für die organisierte Brutalität in Buenos Aires mitverantwortlich gemacht. Insgesamt werden in dem Prozeß 90 Personen angeklagt, sechs davon sind bereits in anderen Verfahren verurteilt worden. Gegen 40 weitere Angeklagte läuft ein Verfahren.

Nach übereinstimmenden Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sind in Argentinien während der euphemistisch »Prozeß der Nationalen Reorganisation« genannten Repres­sionswelle unter der Militärjunta rund 30000 Menschen spurlos verschwunden oder ermordet worden.

* Aus: junge Welt, 19. Februar 2009


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