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Ausbruch aus der Schuldenfalle?

Argentinien und Brasilien zahlen bis zum Jahresende dem IWF die Schulden zurück

Es ist wie ein Befreiungsschlag, was Brasilien und Argentinien zum Ende des Jahres versprochen haben. Hauptziel der Rückzahlungen: Beide Länder wollen sich aus dem Klammergriff des Internationalen Währungsfonds lösen. Beide Länder nutzten großzügige Kredite aus Venezuela - ein Beispiel für eine neue lateinamerikanische Solidarität. Dennoch bleibt ihnen ein großer Schuldenberg gegenüber dem Ausland.



Argentinien baut Schulden ab

Bis Jahresende bekommt der IWF sein Geld zurück

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires*

Zwei Tage nach Brasilien kündigte der argentinische Präsident Néstor Kirchner Ende letzter Woche an, Argentinien werde sämtliche Verbindlichkeiten gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF) – insgesamt 9,8 Milliarden US-Dollar – bis zum Jahresende 2005 begleichen. In einer vom Fernsehen direkt übertragenen Rede sagte Argentiniens Präsident Néstor Kirchner, die Tilgung der Schulden werde mit Hilfe der Devisenreserven der argentinischen Zentralbank erfolgen. Argentinien besitzt gegenwärtig Devisenreserven von knapp 27 Milliarden US-Dollar. Mit der vorzeitigen und einmaligen Bezahlung spare man rund eine Milliarde US-Dollar an Zinszahlungen.

Die gesamte argentinischen Auslandverschuldung beläuft sich jedoch weiterhin auf rund 120 Milliarden US-Dollar. Beim IWF wären 2006 gut 5,1 Milliarden, 2007 gut 4,6 und 2008 nochmals rund 500 Millionen US-Dollar fällig geworden.

Die strikte Einhaltung des Schuldendienstes gegenüber dem IWF war ein zentraler Punkt der argentinischen Wirtschaftspolitik. Dies obwohl die Abhängigkeit von der USA-dominierten Finanzorganisation dem argentinischen Präsidenten Kirchner von Beginn seiner Amtszeit ein Dorn im Auge war und er wiederholt öffentlichkeitswirksam den Fonds kritisierte. Anfang November hatte Kirchner in seiner Eröffnungsrede auf dem Amerika-Gipfel in Mar del Plata in Anwesenheit von USA-Präsident George W. Bush die Politik des IWF gegenüber seinem Land als »pervers« bezeichnet. Er machte den Weltwährungsfonds für die Armut in der Region mitverantwortlich.

In seiner Ankündigung kritisierte Kirchner abermals in scharfer Form die Politik des IWF gegenüber Argentinien. Mit dem Druckmittel der Verschuldung habe er sein Land zu einer »antizyklischen Politik gezwungen, die sich schädlich auf das Wirtschaftswachstum ausgewirkt hat«. Die vorzeitige Bezahlung der Verbindlichkeiten werde Argentinien in eine bessere Position in Bezug auf die Reformierung der internationalen Finanzinstitution versetzen.

Kirchner verkündete den Rückzahlungsplan im Präsidentenpalast vor seinem Kabinett, den Gouverneuren der Provinzen, geladenen Unternehmern, Gewerkschaftsführern, Vertretern der Streitkräfte und Menschenrechtsorganisationen. Estela de Carlotto, die Vorsitzende der Großmütter der Plaza de Mayo sprach anschließend von einem »historischen Tag, weil wir mit einem Monster Schluss gemacht haben, das uns unterdrückt hat«.

Die Regierung Argentiniens kam auf Grund der Hilfe Venezuelas und Spaniens in die Lage, die Schulden beim IWF zu begleichen. Bei Kirchners Besuch in Venezuela Ende November hatte Amtskollege Hugo Chávez einen weiteren Kauf argentinischer Staatsanleihen in nicht genannter Höhe zugesagt. Schon wenige Monate zuvor hatte Venezuela argentinischen Anleihen in Höhe von 900 Millionen US-Dollar gekauft. Zu welchen Konditionen dies geschah, ist nicht bekannt.

Wie die argentinischen Tageszeitung »Clarín« berichtet, wurde der Rückzahlungsplan bereits vor einem Jahr mit der spanischen Regierung besprochen. Demnach sollten bei der Zentralbank Devisenreserven, Guthaben der staatlichen Nationalbank und Steuereinnahmen in Höhe von 10 Milliarden angesammelt werden, um den IWF Ende 2005 auf einen Schlag den IWF auszahlen zu können. Erst vor wenigen Tagen reiste Kabinettschef Alberto Fernández gemeinsam mit der frisch gekürten Wirtschaftsministerin Felisa Miceli nach Spanien. »Dass dir ja nicht einfällt, ohne Geld zurück zu kommen«, soll Kirchner seinem Kabinettschef mit auf den Weg gegeben haben, nachdem Nachbar Brasilien am Dienstag vergangener Woche seine Absicht bekannt gegeben hatte, seine Verbindlichkeiten gegenüber dem IWF bis Ende 2005 zu tilgen.

Die positive Handelsbilanz, der ausgeglichene Staatshaushalt und die Wertsteigerung des brasilianischen Real gegenüber dem US-Dollar machten der Regierung in Brasilia die einmalige Rückzahlung der noch 15,5 Milliarden US-Dollar möglich. Brasiliens gesamte Auslandsschuld beläuft sich auf 226 Milliarden US-Dollar.

»Die Entscheidung Argentiniens fügt sich in die hervorragend aufgenommene Entscheidung Brasiliens ein«, erklärte die neue Wirtschaftsministerin Felisa Miceli. Und Präsident Kirchner bedankte sich in seiner Rede ausdrücklich bei seinen Amtkollegen in Brasilien und Venezuela.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Dezember 2005


Befreiung aus der Umklammerung

Argentinien und Brasilien wollen ihre Schulden beim IWF mit einem Schlag zurückzuzahlen

Von Wolfgang Pomrehn, Porto Alegre**

In Südamerika tut sich Revolutionäres. Brasilien und Argentinien, die beiden ökonomischen Schwergewichte des Halbkontinents, wollen sich mit einem Schlag aus der Umklammerung des Internationalen Währungsfonds (IWF) befreien. Die Präsidenten der beiden Länder, Néstor Kirchner und Luiz Inácio »Lula« da Silva, kündigten Ende letzter Woche an, sie würden die Schulden ihrer Länder beim IWF in den nächsten Wochen in einem Schritt zurückzahlen.

Beim IWF hieß es, man stünde auch in Zukunft bereit, den beiden Staaten weiter mit Rat und Krediten zu helfen. Doch darauf möchte man in Brasilia und Buenos Aires lieber verzichten. Der ganze Kraftakt dient allein dem Zweck, sich endlich von den Auflagen der Sturmtruppe des Neoliberalismus zu befreien. Es gehe darum, so Néstor Kirchner »einen gewissen Grad an Freiheit für nationale Entscheidungen zurückzugewinnen«.

Argentinien hatte seit dem Sommer versucht, abgebrochene Gespräche über die Refinanzierung seiner Schulden wieder aufzunehmen. Die Gläubiger des IWF zahlen gewöhnlich die vereinbarten Raten nicht vollständig zurück, sondern vereinbaren mit dem Fonds, diese in neue Kredite umzuwidmen. Das hat meist finanzpolitische Gründe: Man möchte nicht zuviel seines Devisenschatzes aufwenden, da die Liquidität eines Landes einer der Maßstäbe für dessen Kreditwürdigkeit ist. Ist sie niedrig, so müssen Staat und private Unternehmen für kurzfristige Handelskredite, ohne die der internationale Warenaustausch kaum abzuwickeln ist, hohe Zinsen bezahlen. Ein anderer Grund ist, daß die staatlichen Devisenreserve zur Verteidigung der eigenen Währung gegen kurzfristige Schwankungen an den Finanzmärkten benötigt wird.

Dennoch hat man sich nun zu diesem Schritt entschieden. Brasilien opfert 23 Prozent seiner Reserven, um die verbliebenen 15,5 Milliarden US-Dollar an IWF-Schulden zu zahlen. Nachbar Argentinien muß gar 32 Prozent seines Devisenschatzes aufbringen, um 9,81 Milliarden US-Dollar zu berappen. Rund fünf Milliarden US-Dollar wären im kommenden Jahr ohnehin fällig gewesen, und Argentinien kann so fast eine Milliarde Dollar an Zinsen sparen. Kirchner verwies gegenüber der argentinischen Zeitung La Nacion darauf, daß ein Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar, den Venezuela kürzlich gewährte, die Entscheidung erleichtert habe.

Mit dem neusten Schritt baut Argentinien knapp zehn Prozent seiner verblieben Auslandsschulden ab. Im Frühjahr hatte man privaten Gläubigern den Umtausch von Staatsanleihen angeboten, der die Schuld um rund 60 Milliarden US-Dollar drückte. Jedoch wollte ein Teil der Gläubiger, der zusammen Forderungen von etwa 20 Milliarden US-Dollar hat, den Umtausch nicht akzeptieren. Dabei handelt es sich auch um eine Reihe deutscher Anleger. Die Bundesregierung hatte daher gemeinsam mit anderen westlichen Regierungen die Verhandlungen über Refinanzierung genutzt, um von Argentinien zu verlangen, daß diese Gläubigergruppe ein günstigeres Angebot bekommt. Dieses Druckmittel ist nun entfallen.

** Aus: junge Welt, 19.12.2005


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