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Kirchner blieb neoliberalem Modell treu

Argentiniens Präsidentschaftskandidat Fernando Solanas kritisiert die herrschende Klasse

Der 1936 geborene argentinische Filmregisseur Fernando »Pino« Solanas tritt als Präsidentschaftskandidat bei der Wahl am 28. Oktober 2007 an. Solanas setzte sich in seinen Filmen wie »Der Süden« und »Geschichte einer Plünderung« kritisch mit der sozialen Realität Argentiniens auseinander. Solanas saß als Abgeordneter von 1993 bis 1997 im Parlament. Er ist Mitbegründer der Bewegung für die Rückeroberung der privatisierten Energieträger (MORENO). Über die Bilanz der Amtszeit von Néstor Kirchner sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) Jürgen Vogt. Wir dokumentieren das Interview.



ND: Geht es Argentinien nach vier Jahren Regierung Kirchner besser?

Solanas: Mag sein, dass es heute besser ist als unter den Vorgängerpräsidenten. Aber das ist keine Meisterleistung nach der Wüste, die Fernando de la Rúa 2001 hinterlassen hat. Man muss sich jedoch anschauen, woher die Leute von Kirchner kommen. Es sind die gleichen Funktionäre wie bei Carlos Menem und Eduardo Duhalde. 2001 wurde skandiert: Sie sollen alle abhauen. Und diese Mischung wird heute von der Gesellschaft als fortschrittlich gesehen.

Aber Néstor Kirchner ist mit seiner Menschenrechtspolitik äußerst populär gestartet?

Völlig einverstanden. Als Kirchner 2003 sein Amt antrat und ankündigte, die Amnestiegesetze für die Militärs zu überprüfen, war das eine spektakuläre Sache. 80 Prozent der Bevölkerung unterstützten ihn. Zudem hat er den Obersten Gerichtshof erneuert. Auch das ist keine Kleinigkeit. Aber heute heißt es, wir müssen Cristina (die Präsidentengattin und statt Néstor antretende Präsidentschaftskandidatin, d. Red.) wählen, weil sonst alle Menschrechtsprozesse den Bach runtergehen würden.

Präsident Kirchner kann aber auch auf wirtschaftliche Erfolge verweisen. Vier Jahre lang rund acht Prozent Wachstum sind doch kein Pappenstiel?

Schon, aber unter Kirchner hat es keine wirkliche Umverteilung gegeben. Jedoch hat es die Regierung Kirchner geschafft, ein gutes Image von sich zu verkaufen. Fast alle führenden Köpfe der sozialen Bewegungen sitzen bei Kirchner am Tisch und essen mit. Und sie alle können nicht mehr zurück. Würden sie es tun, würden sie von ihrer Basis gevierteilt, denn auch die isst mit.

Also doch eine, wenn auch eine andere Art von Umverteilung?

Das sind Brotkrümel, während nebenan die Bäckerei geplündert wird. In Argentinien stellt noch immer niemand das neoliberale Modell der 90er Jahre in Frage. Das Land ist reich an Ölvorkommen, bei Metallerzen liegt es auf Platz sechs der Welt. Die Produktionskosten für ein Fass Öl betragen fünf Dollar, auf dem internationalen Markt liegt der Preis bei über 80 Dollar. Wer heute über Öl verfügt, hat ein enormes Entwicklungspotenzial. Doch die Ölmultis in Argentinien haben keinerlei Auflagen, das Öl im Land zu raffinieren, und zahlen keinerlei Steuern. Sie sind auch nicht verpflichtet, ihre Gewinne wieder nach Argentinien zurückzuführen. Seit den 1990ern bis heute exportieren sie Erdöl ohne jegliche öffentliche Kontrolle. Es gib nicht einen einzigen staatlichen Kontrolleur, der überwacht, was gefördert und exportiert wird. Das Ausmaß von Betrug und Schwindel ist monumental. Es gibt auf der ganzen Welt kein Land, das so etwas zulässt.

Staaten wie Venezuela, Bolivien und Ecuador verstaatlichen die Bodenschätzen. Warum steht das in Argentinien nicht zur Debatte?

Kirchner hat nicht einen Schritt gegen die Transnationalisierung von argentinischem Grund und Boden unternommen. Kirchner hat zwar durchgesetzt, dass den Provinzen die Bodenschätze überlassen werden. Nun behaupten die zehn Provinzen, dass die Bodenschätze ihnen gehören. Darunter ist auch die Heimatprovinz des Präsidenten, Santa Cruz. De facto machen sie aber, was die Multis wollen, mit denen sie direkt verhandeln. Die Ölfirmen haben nun verlangt, die Konzessionen zu verlängern, obwohl sie erst 2017 ausgelaufen wären. Menem hatte sie für 25 Jahre ausgestellt, unter Kirchner wurden sie vor wenigen Wochen für weitere 30 Jahre verlängert – bis 2047. Keiner greift den Kern des Modells an, und der Kern ist die Plünderung. Und auch keiner der Oppositionskandidaten redet darüber.

Aber die Multis bekommen das nicht umsonst…

In Argentinien wird jährlich Öl im Wert von 16 Milliarden Dollar gefördert. Die Abgaben an den Staat belaufen sich auf zwölf Prozent. Heute gibt es in Lateinamerika außer Argentinien kein Land, das Abgaben unter 50 Prozent zulässt. In Venezuela bekommen die Ölfirmen 18 Prozent und 82 Prozent bleiben beim Staat, ähnlich ist es in Bolivien. Und wir sollen glauben, die Provinzgouverneure bekommen nur zwölf Prozent? Oder fließt da noch etwas in andere Kassen? Jedenfalls verscherbeln sie die Zukunft der kommenden Generationen. Das ist ein Akt von schwerem Landesverrat. In der Ehrenvitrine mit den größten Landesverrätern wird einmal gleich neben der Büste von Carlos Menem die von Néstor Kirchner stehen. Und die Wahlformel der Kirchner-Partei mit Cristina Kirchner als Präsidentin und Julio Cobos als Vize ist das Bündnis von Erdöl und Bergbau und die Fortsetzung dieser Politik.

Was würde ein Präsident »Pino« Solanas in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit machen?

Sofortige Nationalisierung von Erdöl, Gas und Bergbau. Jedoch nicht über Enteignung sondern über eine Neuverhandlung der Verträge. Das hat Evo Morales in Bolivien in sechs Monaten geschafft und nicht ein Multi hat das Land verlassen. Das Beispiel zeigt, dass dies in Lateinamerika möglich ist. Die ausländischen Ölfirmen, die Tonnen von Geld außer Landes geschafft haben, würden wir entsprechend den eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen entschädigen. Aber die Plünderung muss ein für allemal ein Ende haben.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2007


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