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Gegenwind für Cristina Kirchner

Argentiniens Präsidentin sieht sich zum ersten Mal mit einem Generalstreik konfrontiert

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *

Mit einem Generalstreik haben die beiden großen argentinischen Gewerkschaften von der Regierung eine Steuersenkung gefordert. Präsidentin Cristina Kirchner will sich dadurch nicht beeindrucken lassen.

Das hatte Argentinien seit 2003 nicht mehr erlebt: Am Dienstag fand der erste Generalstreik der Kirchner-Ära statt. Erstmals riefen die beiden wichtigsten Gewerkschaftsdachverbände des Landes gemeinsam zum Streik auf: die CGT und der CTA. Dazu gesellten zwei der wichtigsten Agrarverbände, die auf dem Land ihre Mitglieder zu Protesten aufriefen.

Während der Ausstand landesweit spürbar war, entfaltete er seine größte Wirkung in der Hauptstadt Buenos Aires. Bereits am frühen Morgen blockierten streikende Arbeiter und Arbeitslose die wichtigsten Zufahrtstraßen nach Buenos Aires. Vielerorts kam der Zugverkehr wegen Schienenblockaden zum Erliegen. In den staatlichen Krankenhäusern wurden Notdienste eingerichtet, in zahlreichen Schulen fiel der Unterricht aus. Banken und Tankstellen blieben geschlossen, am Stadtflughafen wurden alle Inlandsflüge gestrichen. Kundgebungen fanden keine statt. Die Ruhe und der wenige Verkehr in der Hauptstadt erinnerten an einen Sonntagnachmittag.

Konkret geht es den Gewerkschaften um die Senkung der Einkommensteuer über eine Anhebung des steuerlichen Freibetrages. Was sich technokratisch trocken anhört, enthält jedoch jede Menge sozialen und politischen Sprengstoff.

Die Regierung Kirchner weigert sich bereits seit einigen Jahren, die herrschenden Preissteigerungen als Inflation anzuerkennen. Seit Mai 2008 rechnet sie die jährliche Inflationsrate auf rund zehn Prozent herunter. Im Gegensatz dazu gehen die Gewerkschaften seit Jahren mit der »Inflationsrate in den Supermärkten«, so CGT-Gewerkschaftsführer Hugo Moyano, von rund 25 Prozent in die Lohnfindungsrunden und handeln - paradoxerweise mit Zustimmung der Regierung - jährliche Lohnsteigerungsraten zwischen 20 und 25 Prozent aus.

So stiegen die Bruttolöhne in den vergangenen Jahren zwar beträchtlich an, doch die Regierung weigert sich, den steuerlichen Freibetrag entsprechend anzuheben. Die Konsequenz: Wegen des progressiven Einkommenssteuersystems verfügt die Mehrzahl der Lohnempfänger nach jeder Lohnerhöhung zwar über mehr Geld, aber nach Abzug der Steuern und inflationsbereinigt über immer weniger Kaufkraft. Nach Jahren der sozialen Erholung kommen zunehmend weniger Familien damit bis zum Monatsende. Wut und Unverständnis unter den Beschäftigten steigen mit jeder neuen Lohn- und Gehaltsabrechnung.

Um den Verband CTA mit ins Boot zu holen, willigte die CGT ein, die Forderung nach mehr staatlicher Unterstützung für einkommensschwache Familien mitzutragen. Während die CGT die eher traditionelle Gewerkschaftsbewegung repräsentiert, vertritt die CTA den öffentlichen Dienst und kleinere Dienstleistungsgewerkschaften, aber auch soziale Nichtregierungsorganisationen und vor allem Gruppierungen aus dem informellen Bereich der Ökonomie.

Beide Dachverbände haben sich jedoch unlängst gespalten. Der jeweils kleinere Teil unterstützt weiter die Regierung, während die größeren Abspaltungen in Opposition zu ihr stehen, darunter die mächtige Gewerkschaft der Transportarbeiter von Hugo Moyano. Noch vor wenigen Tagen hatte die Regierung versucht, die Wogen zu glätten und einen einmaligen Freibetrag auf das Weihnachtsgeld verkündet. Warum die Regierung jedoch den Freibetrag nicht längst nach oben korrigiert hat, lässt sich nur mit ihrer sturen Haltung gegen alle Forderungen und Vorschlage erklären, die nicht aus ihren eigenen Reihen stammen.

Dementsprechend kämpferisch fiel denn auch die Reaktion von Präsidentin Cristina Kirchner aus. »Das heute war kein Streik und keine Arbeitsniederlegung, das war ein Würgegriff, es war eine Drohung.« Niemand werde sie zur Seite schieben, so die Präsidentin, die 2007 zur Nachfolgerin ihres 2010 verstorbenen Mannes Néstor Kirchner gewählt worden war. 2011 schaffte sie noch triumphal die Wiederwahl. Dagegen lautet das Fazit der Gewerkschaftsführer: Cristina Kirchner ist noch immer nicht dialogbereit.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 22. November 2012


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