Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Argentinien: Präsident Néstor Kirchner im Stimmungshoch

Auch viele soziale Bewegungen unterstützen den Linkperonisten - Gleichzeitig öffnet sich die Schere zwischen arm und reich weiter

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, die sich mit den Feierlichkeiten anlässlich des argentinischen Nationalfeiertags befassen: Der 25. Mai war gleichzeitig das Datum des Amtsantritts des beliebten Präsidenten Kirchner.



Kirchner mit Rückenwind ins Wahljahr

Viele Argentinier wünschen eine erneute Kandidatur des linksperonistischen Präsidenten

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires*

Argentiniens Präsident Néstor Kirchner geht ins vierte Amtsjahr. Bei Amtsantritt vor drei Jahren setzte niemand einen Peso auf den schielenden und lispelnden Schlacks aus der Pinguinprovinz Santa Cruz. Heute sitzt er fester in seinem Amtssessel als die große Mehrzahl seiner Vorgänger.


Seit 2003 fällt der argentinische Nationalfeiertag am 25. Mai mit dem Amtsantritt des Präsidenten Néstor Kirchner zusammen. Deswegen mobilisierten Kirchners Anhänger mobilisierten seit Wochen zu einer großen Pro-Kirchner-Demonstration auf der Plaza de Mayo. Lange galt das Erscheinen des Präsidenten als ungewiss. Als klar war, dass die Plaza voll sein würde, sagte auch Kirchner sein Kommen zu. Nach Angaben der Veranstalter sind 300 000 gekommen. Nach den letzten Umfragen sind 80 Prozent der Argentinier für eine zweite Amtszeit ihres 56-jährigen Präsidenten.

Kichners Popularität ist erstaunlich, galt doch die gesamte politische Klasse durch die seit 1998 eskalierende Wirtschaftskrise als verrufen: »Haut alle ab!«. lautete der Slogan. Im Dezember 2001 jagte die protestierende Bevölkerung den damaligen bürgerlichen Präsidenten Fernando De la Rúa aus dem Amt. Es folgten fünf Präsidenten in zwei Wochen. Der wirtschaftliche und politische Niedergang setzte sich fort. Schließlich führte der Peronist Eduardo Duhalde das Präsidentenamt interimsweise bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen. Im Mai 2003 gewann der Peronist Néstor Kirchner die Präsidentenwahl in der zweiten Runde, da sein Gegenkandidat Carlos Menem nicht zur Stichwahl antrat.

»Er hatte kaum eine Legitimation. Er konnte ja nicht in den zweiten Wahlgang und hatte als zweitplatzierter im ersten Wahlgang mit gerade mal 22 Prozent der Stimmen«, sagt Eduardo Vior, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität La Matanza in der Provinz Buenos Aires. »Aber er ergriff sofort Maßnahmen zur Säuberung des Militärs und machte eine starke Menschenrechtspolitik.« Damit konnte Kirchner den Großteil der starken argentinischen Menschenrechtsbewegung hinter sich bringen.

Auch an diesem 25. Mai stehen neben Kirchner die Madres der Plaza de Mayo mit ihren weißen Kopftüchern auf der Bühne. Mercedes Sosa stimmt die Nationalhymne an. Kirchners Rede ist 15 Minuten lang. Rückgewinnung und Wiederaufbau sind die Schlüsselwort. Rückgewinnung und Wiederaufbau des Staates, der Industrie, der Landwirtschaft, der Erinnerung, der Gerechtigkeit. Kein Wort von Wiederwahl 2007. Kirchner nimmt den Kritikern den Wind aus den Segeln. Die liefen Sturm gegen seine Vereinnahmung des Feiertages für einen Wahlkampfauftakt.

Für Vior hat Kirchner wenig von einem professionellen Politiker, weil er kaum auf Kompromisse eingeht: »Er ist ein Vollblutaktivist, der stur durch die Wand geht. Er hat sich als ein desarollista definiert, ein Entwicklungsfanatiker.« Mit diesem Fanatismus setzt Kirchner auf die großen argentinischen Industriekonzerne und betreibt eine Politik der Re-Industrialisierung.

Seit Kirchners Amtsantritt geht es mit Argentiniens Wirtschaft aufwärts. »Kirchner hat Glück und Soja«, kommentierte dies kürzlich Ex-Präsident Carlos Menem. Tatsächlich ist die Landwirtschaft der Motor des Aufschwungs. Argentinien erlebt einen Soja- und Exportboom bei Agrarprodukten – vor allem durch die Nachfrage aus China. 40 Prozent der Exporterlöse bringt allein das Soja. Über die Exportsteuer kassiert der Staat kräftig mit.

Die sprudelnden Dollareinnahmen halfen Ende 2005 auch bei der vorzeitigen Rückzahlung aller Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Kirchner hatte damals die komplette Schuldentilgung beim verhassten IWF vor den Gouverneuren der Provinzen, geladenen Unternehmern, Gewerkschaftsführern, Vertretern der Streitkräfte und Menschenrechtsorganisationen verkündet. Estela de Carlotto, die Vorsitzende der Großmütter der Plaza de Mayo sprach anschließend, »von einem historischen Tag, weil wir mit einem Monster Schluss gemacht haben, dass uns unterdrückt hat.«

Doch sozial sieht die Bilanz von Kirchner nicht so rosig aus: Immer noch 40 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze – mit leicht sinkender Tendenz. Dennoch sind es 4,5 Millionen Menschen mehr als 1998.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Mai 2006


Kirchners Träume

Hunderttausende bejubeln Argentiniens Präsidenten am Nationalfeiertag. Trotz wirtschaftlicher Erholung geht Schere zwischen arm und reich weiter auseinander

Von Timo Berger, Buenos Aires**

Am Donnerstag feierte Argentinien seine Unabhängigkeit und Präsident Néstor Kirchner seinen größten Triumph. Die zentrale Kundgebung in der Hauptstadt Buenos Aires war die erste öffentliche Veranstaltung des Staatschefs in drei Jahren Präsidentschaft. Nach Angaben der Organisatoren versammelten sich 350.000 Menschen auf der zentralen Plaza de Mayo und in den angrenzenden Straßenzügen. In Hunderten Bussen und Sonderzügen waren die Menschen aus den Provinzen gekommen. Neben der Rede des Präsidenten stand ein Konzert von Mercedes Sosa und Víctor Heredia auf dem Programm.

Der ehemalige Gouverneur der Provinz von Santa Cruz war 2003 mit nur knapp über 20 Prozent der Stimmen gewählt worden. Kirchner hatte daher immer der Makel einer geringen demokratischen Legitimation angehaftet. Die Manifestation aber räumte nun jegliche Zweifel am Rückhalt des Präsidenten in der Bevölkerung und unter den Provinzregierungen aus. Selbst weite Teile der sozialen Bewegungen – die für ihr kritisches Verhältnis zur Regierung bekannt sind – unterstützten den Demoaufruf.

»Mein Traum ist es, ein vielfältiges Argentinien aufzubauen«, rief Kirchner den Hunderttausenden zu, und: »Wir werden den Wandels beschleunigen.« In seiner kämpferischen Rede griff Kirchner die Verantwortlichen für die Verbrechen während der Militärdiktatur (1976–83) ebenso an wie den Expräsidenten Carlos Menem, der seine Kandidatur vor der Stichwahl 2003 zurückgezogen hatte. In den vergangenen drei Jahren seien hingegen die Rückzahlung der Schulden Argentiniens beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und die »Erholung der Industrie und der Landwirtschaft« erreicht worden. Durch die Umschuldung der Schulden bei privaten Gläubigern und die Rückzahlung der Kredite des Währungsfonds verringerten sich die Staatsschulden von 180 auf 119 Milliarden US-Dollar und damit auf den Stand von 2003.

Das positive Resümee wird von der Bevölkerungsmehrheit offenbar geteilt. Mehr als 80 Prozent der befragten Argentinier sind mit der Amtsführung des »Linksperonisten« zufrieden, mehr als 50 Prozent sprachen sich für seine Wiederwahl aus. Immerhin beträgt das durchschnittliche Wirtschaftswachstum neun Prozent. Damit erreicht das Bruttoinlandsprodukt pro Person 2006 fast wieder den Stand vor der Krise 1998. Die Arbeitslosigkeit ging von 17,3 Prozent im Jahr 2003 auf derzeit 11,1 Prozent zurück. Der Anteil von Armen verringerte sich von über 50 Prozent auf 33 Prozent.

Dennoch hat sich die Schere zwischen arm und reich in den vergangenen Jahren weiter geöffnet. Lag im Jahr 1998 das Einkommen der oberen zehn Prozent noch 22,8mal über dem Verdienst der unteren zehn Prozent, beträgt dieser Faktor derzeit 28,5. Auch der Durchschnittslohn ist um 15 Prozent gegenüber 2001 gesunken. Argentinische Wirtschaftsexperten vermuten hinter dem Aufschwung zudem ein konjunkturelles Hoch, das auf den Anstieg der Exportpreise für Treibstoffe und Getreide auf dem Weltmarkt zurückzuführen sei. So ist trotz des kurzzeitigen Erfolges noch nicht klar, ob Kirchner eine mittel- und langfristige Strategie hat. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit hängt auch mit der Einführung neuer Sozialpläne zusammen. Denn wer Sozialhilfe erhält, wird als Beschäftigter gezählt.

** Aus: junge Welt, 27. Mai 2006


Zurück zur Seite "Argentinien"

Zurück zur Homepage